Sehen im Alter: „Aktuell verpassen wir viele Chancen“
Interview mit Robert Finger

· Ute Stephanie Mansion

Früherkennung und Prävention für Augenerkrankungen wie Glaukom, Altersabhängige Makuladegeneration und diabetische Augenkrankheiten zu etablieren, um sie zu verhindern oder hinauszuzögern: Das wäre sinnvoll, meint Prof. Dr. Dr. Robert Finger, Direktor der Augenklinik am Universitätsklinikum Mannheim. Doch warum ist es in Deutschland schlecht bestellt um vorsorgliche Untersuchungen? Im Interview nennt der Mediziner mehrere Gründe.

Professor Robert Finger spricht in ein Mikro, das er in der Hand hält. Er hat kurzes Haar, trägt eine große Brille mit dunklem Rahmen, ein dunkles Sakko und ein weißes Hemd.
Professor Robert Finger auf der 4. Fachtagung "Sehen im Alter"  ·  Bild: DBSV/Mädje

Herr Prof. Dr. Dr. Finger, bei der Fachtagung „Sehen im Alter“ haben Sie die drei Augenkrankheiten Glaukom, Altersabhängige Makuladegeneration (AMD) und diabetische Augenerkrankungen als die drei Volksaugenkrankheiten bezeichnet. Eine Studie hat gezeigt, dass jedoch das Allgemeinwissen darüber recht gering ist. Warum müsste sich das ändern?

Wir haben etwas über tausend Deutsche, älter als 40, repräsentativ für die Allgemeinbevölkerung zu den Erkrankungen befragt, und da hat sich gezeigt: Relativ wenige konnten Wissensfragen dazu beantworten. Etwa die Hälfte konnte einen Teil der Fragen beantworten, aber sehr viel weniger konnten den Großteil der Fragen beantworten. Wenn wir jetzt darüber nachdenken, die Bereiche Früherkennung und Prävention zu stärken, bringt uns das nur etwas, wenn die Bevölkerung die Erkrankungen kennt und weiß, dass es sinnvoll ist, Früherkennungs- oder Präventionsmaßnahmen wahrzunehmen.

Warum ist das sinnvoll?

Alle Volksaugenerkrankungen sind altersabhängig, das heißt, je älter man wird, desto höher ist das persönliche Risiko, daran zu erkranken. Da wir alle älter werden, kommen diese Erkrankungen immer öfter vor. Und da wir länger leben, hat jede Erkrankung ein höheres Lebenszeitrisiko. Das bedeutet: Wir haben länger den Grünen Star, länger die Altersabhängige Makuladegeneration oder länger die diabetischen Augenerkrankungen. Wenn diese Erkrankungen Probleme machen und behandelt werden müssen, dauert es auch meistens länger. Das ist teurer, als wenn ich durch Früherkennung oder Prävention die Erkrankungen verhindere oder hinauszögere.

Die Früherkennung führt natürlich nicht immer dazu, dass ich die Erkrankung nicht bekomme. Aber oft lässt sie sich hinauszögern oder der Verlauf verlangsamen, weil ich früher mit einer Behandlung oder einer Risikoreduktion beginne. Ein gutes Beispiel ist der Grüne Star, also das Glaukom. Fast die Hälfte der Betroffenen weiß nichts von ihrer Erkrankung, weil sie lange asymptomatisch verläuft und man sie dem Auge nicht ansieht.

Aktuell verpassen wir viele Chancen, früh einzusteigen mit der effektiven Behandlung durch Augentropfen oder Operationen, um zu verhindern, dass jemand später im Leben einen Sehverlust erleidet. Also wäre es sinnvoll, wenn wir früh einsteigen würden. Das gilt natürlich auch in anderen Fachbereichen, nicht nur in der Augenheilkunde.

Und warum gibt es nicht mehr Prävention und Früherkennung? Wer oder was steht einer Umsetzung im Weg?

Wir haben in den letzten Jahrzehnten ein Gesundheitssystem in Deutschland aufgebaut, das kurativ unterwegs ist: Es steigt erst dann ein, wenn jemand eine Erkrankung hat. Da gibt es gut geregelte Abläufe, Kostenträger und so weiter. Es ist jedoch nicht im gleichen Umfang geregelt, wenn jemand ohne Diagnose eine Früherkennung machen lassen möchte. Für einige Bereiche gibt es das, zum Beispiel bei der Darmkrebs-, der Prostatakrebs- oder der Brustkrebsvorsorge. Im Bereich der Augenerkrankungen gibt es bislang keine großangelegte Früherkennung. Man braucht auch nicht für jede Augenerkrankung eine unterschiedliche Früherkennung, sondern kann eine für alle machen. Aber Früherkennung ist in Deutschland bislang noch nicht so etabliert im Gesundheitssystem wie in anderen Ländern. Da stellen zum Beispiel Optometristen Brillenrezepte aus und können bei dieser Gelegenheit auch eine Früherkennung durchführen.

Eine Ausnahme sind die diabetischen Augenerkrankungen. Für sie wird regelmäßig Screening im Rahmen der Diabetes-Versorgung angeboten. Menschen mit Diabetes sollten mindestens alle zwei Jahre zum Augenarzt gehen, um sich untersuchen zu lassen.

In der Augenheilkunde haben wir in Deutschland leider keine gute Datengrundlage, was die Effektivität der Früherkennung angeht. Es gibt jedoch Studien aus anderen Ländern, die zeigen, dass das für diese Erkrankungen sinnvoll ist.

Was wird die Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft (DOG), die Sie ja auch vertreten, tun, um mehr Früherkennung zu etablieren?

Das Wichtigste sind politische Hebel, die man umlegen sollte. Daran arbeitet natürlich auch die Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft – es gibt zum Beispiel einen politischen Referenten der DOG, der sich darum kümmert. Wir stellen auch Daten zusammen, zuletzt in unserem Weißbuch, das vergangenes Jahr neu aufgelegt wurde. Darin wird betont, wie wichtig es in Anbetracht unserer alternden Bevölkerung und der immer weniger werdenden Fachkräfte ist, dass man bestimmte Augenerkrankungen vermeidet oder hinauszögert. Aber auch viele andere Akteure sind gefragt: weitere berufsständische Organisationen sowie Patientenorganisationen oder der DBSV zum Beispiel.

Auf der Fachtagung wurde erneut deutlich gemacht, dass Menschen in Pflegeheimen und anderen Einrichtungen meistens fachärztlich unterversorgt sind. Augenkrankheiten werden oft nicht entdeckt oder etwa mit Demenz verwechselt. Ist es nicht ein Skandal, dass das in Deutschland möglich ist? Was kann getan werden, um die Situation endlich zu verbessern?

Sie haben recht: Es ist erschreckend, wie schlecht die Versorgung ist. Sobald jemand in eine stationäre Pflegeeinrichtung für ältere Menschen umzieht, wird die gesamte ärztliche Versorgung erheblich schwieriger, und die fachärztliche Versorgung ist oft sehr schlecht.

Der Hauptaspekt ist die Mobilität: Wie kommen Patienten aus diesen Einrichtungen zum Arzt und zurück? Auch die Mobilität der Ärzte ist nicht gut. Es gibt wenige gute Versorgungslösungen, wie man die beiden Gruppen zusammenbringt. Das ist auch schwierig, weil dieser Bereich über die kassenärztliche Versorgung im ambulanten Bereich abgedeckt werden muss; es ist in der Regel nicht möglich, dass Kliniken sich daran beteiligen.

Oft geht es nicht nur um den Transport zur Praxis, sondern auch um die Begleitung. Ein Konzept ist, dass man Mitarbeiter, die keine Ärzte, aber geschult sind, in Seniorenheime schickt. Das können Orthoptistinnen, Optometristen, Optiker oder Arzthelferinnen aus einer Augenarztpraxis sein. Sie würden feststellen, welche Bewohner zum Augenarzt gebracht werden müssten. Aber auch das ist keine optimale Lösung.

Eine Alternative wäre, dass man es telemedizinisch versucht und Bilddaten sammelt: Man fotografiert die Netzhaut und den Sehnerv, macht einen Sehtest, misst den Augeninnendruck, und ein Augenarzt, eine Augenärztin prüft die Bilder. Dieses Versorgungsmodell ist aber bislang noch nicht etabliert. Meistens wird es in Studien oder Projekten erprobt. Soweit ich es beurteilen kann, funktioniert das technisch gut. Die Frage ist: Findet im Anschluss an das Screening tatsächlich eine Versorgung statt? Dazu haben wir bislang relativ wenige Daten.

Wieviel Hoffnung darf die mittlere Generation haben, dass sich telemedizinische Methoden in absehbarer Zeit etabliert haben werden und nicht mehr befürchtet werden muss, in einem Pflegeheim unterversorgt zu sein?

Ich glaube, wir können optimistisch sein, dass sich das Ganze auch durch technischen Fortschritt verbessert. Vieles ist ja technisch schon möglich – wo es hapert, ist die Integration in bestehende Abläufe. Nicht nur, was den Ablauf vor Ort angeht, sondern auch, was die Abrechnung betrifft. Die Dinge werden aus unterschiedlichen Töpfen finanziert, und es gibt großen Bedarf, das abzustimmen. Das ist eine politische Aufgabe, die gelöst werden muss. Ich bin jedoch hoffnungsvoll, dass sich da etwas tut, denn es sind nicht nur die Augenärztinnen und Augenärzte, die darauf hinweisen, dass es nicht gut funktioniert, sondern auch alle anderen Fachbereiche.

Schwerpunktthema: Sehen im Alter

Viele Herausforderungen, um ältere Menschen mit Sehproblemen besser zu versorgen, sind geblieben seit der ersten Fachtagung „Sehen im Alter“ 2014. Zur vierten Fachtagung versammelten sich im Juni in Bonn wieder viele Fachleute. Sie diskutierten über Lösungsansätze, zu denen zum Beispiel telemedizinische Untersuchungen, mobile Beratung und Prävention gehören. Als thematischer Dauerbrenner erwies sich erneut Reha nach Sehverlust.

  • Vernetzung von Fachleuten, Probleme in der Diskussion und gemeinsame Lösungsansätze: Wie die 4. Fachtagung „Sehen im Alter“ „In kleinen Schritten zu großen Zielen“ bewegt.
  • Aktuell verpassen wir viele Chancen“, sagt Prof. Robert Finger in Bezug auf  Früherkennung und Prävention für Augenerkrankungen. Im Interview nennt er Gründe für die schlechte Vorsorge in Deutschland.
  • Was gut läuft und was besser ginge“, wurde in fünf Workshops auf der Fachtagung „Sehen im Alter“ diskutiert.

  • In "Hürden erkannt, noch nicht gebannt" verraten die Ergebnisse einer Umfrage, was Menschen mit Sehbehinderung daran hindert, im vollen Umfang am gesellschaftlichen und politischen Leben teilzunehmen und digitale Angebote zu nutzen.

Zurück