Sehen im Alter: Was gut läuft und was besser ginge

· Sabine Backmund, Leonie Koll, Ute Stephanie Mansion

Viele Veranstaltungen, Angebote und Ideen, um die Probleme älterer Menschen mit Sehbehinderungen bekannt zu machen und anzugehen, gibt es bereits: Das zeigte die Vielfalt der Impulsvorträge und Diskussionsbeiträge in den fünf Workshops der Fachtagung „Sehen im Alter“. Die Workshop-Gäste tauschten Anregungen zu digitaler und analoger Barrierefreiheit, Beratung und Vernetzung aus.

 „Das Brot, das wir zum Leben brauchen“

Workshop in einem größeren Raum: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sitzen in einer Reihe; vorne befinden sich ein Mann und eine Frau, die jeweils ein Mikro in der Hand halten.
Workshop im Rahmen der 4. Fachtagung "Sehen im Alter"  ·  Bild: DBSV/Mädje

Workshop 1: Hürden der Teilhabe älterer Menschen mit Behinderung, Moderation: Markus Georg, DBSV, Koordinator Aktionsbündnis „Sehen im Alter“

Ältere Menschen engagieren sich häufig ehrenamtlich, ältere Menschen mit Behinderung jedoch deutlich weniger. Das hat der dritte Teilhabebericht der Bundesregierung ans Licht gebracht. Warum ist das so, und wie kann man es ändern? Mit dieser Frage beschäftigt sich bei der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO) eine Fachkommission, deren Arbeit die stellvertretende Geschäftsführerin der BAGSO, Silke Leicht, im ersten Impulsvortrag des Workshops vorstellte. Die Fachkommission meint, Assistenzleistungen, wie es sie für Berufstätige gibt, seien auch für Ehrenamtliche wichtig. Sie überlegt nun, ein Positionspapier mit Handlungsempfehlungen aufzusetzen.

Als zweiten Impuls berichtete Klara Wolf vom Blindeninstitut Regensburg, wie Teilhabemöglichkeiten in Senioreneinrichtungen auch für Menschen mit Sehbehinderungen verbessert werden können. Sie zeigte auf, wie zum Beispiel Sehbehindertenbeauftragte etabliert werden können.

Den dritten Impuls lieferte Thomas Golka, Mitglied einer Fokusgruppe des Aktionsbündnisses „Sehen im Alter“. Digitalisierung wird von der Fokusgruppe als Chance, aber auch als Hürde wahrgenommen. Eine Umfrage zu Hürden der Teilhabe älterer Menschen mit Behinderung hatte bestätigt, dass Barrierefreiheit, auch im digitalen Bereich, als der Schlüssel zur Teilhabe betrachtet wird, oder, wie Golka es sagte: „Inklusion ist das Brot, das wir zum Leben brauchen.“ Barrieren abzubauen sei deshalb eine essenzielle Aufgabe, um auch Menschen mit Sehbehinderungen Teilhabe in allen Lebensbereichen zu ermöglichen.

Tipps und Beispiele aus der Praxis

Workshop 2: Bauliche Barrierefreiheit, Moderation: Dr. Ursula Hahn, OcuNet

Barrierefreiheit in Arztpraxen wird zurzeit nur freiwillig umgesetzt. Das erklärte in ihrem Impulsvortrag Dr. Ursula Hahn, Geschäftsführerin von OcuNet, einem Zusammenschluss großer augenheilkundlicher Zentren. „Wenn die Entscheidung zwischen schick oder barrierefrei für sehbehinderte Menschen fallen müsste, fällt sie für schick“, sagte sie. Es fehle den Praxen auch an Kriterien für Barrierefreiheit. Sie wolle das Thema noch einmal auf die Agenda setzen.

„Selbstständig und sicher wohnen“ lautete der Impulsvortrag von Hanja Laumann von der Agentur Barrierefrei NRW, angesiedelt beim Kompetenzzentrum Volmarstein. Sie verdeutlichte die Gefahr von Stürzen und dem Verlust der räumlichen Orientierung im Alter. Um Gefahren vorzubeugen, haben die Beraterinnen und Berater der Agentur viele Tipps auf Lager: das Zwei-Sinne-, besser das Drei-Sinne-Prinzip anwenden, im Alltag mit Kontrasten arbeiten, den Beleuchtungsbedarf individuell anpassen und vieles mehr. Die Agentur Barrierefrei ist ein öffentlich gefördertes Projekt, das zu Barrierefreiheit bei Gebäuden, in der IT, bei Mobilität und Verkehr, zu technischen Hilfsmitteln und Leichter Sprache berät.

Der dritte Impuls kam von Christoph Neumann von der Stiftung Saarbrücker Altenwohnstift. Er stellte die mit dem GERAS-Preis 2023 ausgezeichnete Einrichtung vor und berichtete, dass dort Standards zu Kontrasten, Orientierung und Bewusstseinsbildung umgesetzt werden. Es werde zum Beispiel mit indirekter Beleuchtung und blendfreier LED-Technik gearbeitet, Badezimmer seien kontrastreich gestaltet, und bei der Orientierung helfe ein Leit- und ein Farbsystem. Auch das Einbeziehen der Bewohner sei wichtig. Als Tipp gab er anderen mit: Verbündete suchen, zum Beispiel Verbände und Fachleute.

In der Diskussion wurde klar, dass die Vielfalt der Themen, die Alteneinrichtungen zu bewältigen hätten, sie oft daran hinderten, die Probleme seheingeschränkter Menschen anzugehen. Hinsichtlich Arztpraxen müsse die Zeit der Freiwilligkeit in puncto Barrierefreiheit vorbei sein.

Neues Gutes schaffen statt Schlechtes besser machen

Workshop 3: Digitalisierung – Herausforderungen für ältere Menschen mit Sehbehinderung, Moderation: Katharina Braun, BAGSO

Chancen und Risiken der Digitalisierung waren ein Thema in Workshop 3. Eine Chance liegt nach Meinung der Teilnehmenden darin, dass vieles schneller, weil digital verfügbar ist, zum Beispiel Informationen für Patientinnen und Patienten oder Podcasts mit Tipps für ein selbstständiges Leben mit Sehbehinderung. Auch veränderbare Schriftgrößen und Kontraste ermöglichten mehr Teilhabe. Viele ältere Menschen schätzen es außerdem, über soziale Medien Kontakte zu halten.

Auch über Barrieren wurde gesprochen: Um Apps nutzen zu können, müsse man beispielsweise wissen, wie man ein Handy bedient, an ein digitales Angebot kommt oder eine App installiert. Als Barriere benannt wurde auch fehlende Standardisierung.

Eine Lösung bietet der „Digitalkompass“ der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO). Katharina Braun von der BAGSO stellte dieses Angebot niedrigschwelliger Schulungen vor.

Angelika Ostrowski, DBSV, sprach über das Beratungsangebot „Blickpunkt Auge“ des DBSV – auch dort äußern die Ratsuchenden den Wunsch nach Beratung im Hinblick auf digitale Anwendungen.

Rose Jokic vom DBSV präsentierte das DBSV-Projekt „Digitale Barrieren melden“, in dem Menschen darin geschult werden, Barrieren auf Webseiten und in Apps zu identifizieren und die Anbieter darauf hinzuweisen.

Schlussfolgerungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer: Analoge Angebote sollten nicht ohne Alternativen durch digitale ersetzt werden. Auch Printprodukte funktionierten weiterhin gut, nicht nur für ältere Menschen.

Der Wunsch aus diesem Workshop: Barrierefreiheit von Anfang an mitdenken. Denn es sei leichter, neues Gutes zu schaffen, als Schlechtes besser zu machen.

Die Workshopteilnehmenden sitzen in einem großen Kreis beisammen. Eine Frau hält, an einem Tisch mit bodenlanger, blauer Tischdecke stehend, einen Impulsvortrag. Eine Präsentation wird hinter ihr an die Wand geworfen.
Bild: DBSV/Mädje

Mobile Beratung: Stadt, Land, Bus

Workshop 4: Aufsuchende Beratung und Versorgung, Moderation: Sandra Schippenbeil, DBSV

Im Workshop zu aufsuchender und mobiler Beratung lernten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zwei unterschiedliche Angebote zu Rat und Hilfe bei Sehverlust kennen.

Der Geschäftsführer des Blinden- und Sehbehindertenverbands Niedersachsen, Gerd Schwesig, informierte in seinem Impulsvortrag über die mobile Beratung mit dem Beratungsmobil „Blickpunkt Auge“, einem Kleinbus, in seinem Bundesland. Das Beratungsmobil bietet Beratungen an wechselnden Orten wie Einkaufszentren oder auf Marktplätzen an. Die ehrenamtlichen Beraterinnen und Berater führten im letzten Jahr rund 700 Gespräche an 87 Orten.

Auch die Seniorenberatung der blista in Marburg wurde vorgestellt: Sozialpädagoginnen und -pädagogen sowie Rehabilitationsfachkräfte besuchen Menschen bei Beratungsbedarf zu Hause oder in Pflegeheimen. Pro Jahr haben sie rund 200 Termine.

Entsprechend der Gegebenheiten in den Bundesländern können die Organisationen auf den Bedarf der Menschen eingehen, wurde berichtet. Nähe und Distanz zu balancieren, stelle eine Herausforderung in beiden Modellen dar.

Deutlich wurde in der Diskussion, dass die Beraterinnen und Berater bei mobilen Angeboten gut qualifiziert und vernetzt sein müssen. Zudem müssten die Angebote vorher öffentlich bekanntgemacht werden. Wichtig für den Fortbestand der Angebote seien langfristige Finanzierungsmodelle, schlossen die Workshop-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer.

Regionen wünschen sich politische Unterstützung

Workshop 5: Regionale Bündnisse Sehen im Alter, Moderation: Sabine Backmund, Blinden- und Sehbehindertenverband Württemberg

Drei Impulsvorträge führten in das Thema des Workshops ein. Sabine Backmund stellte in ihrem Vortrag das auf fünf Jahre angelegte Projekt „Initiative SiA“ des Blinden- und Sehbehindertenverbands Württemberg vor. Die Abkürzung SiA steht hier für „Selbstständig im Alltag“. Das Projekt baut auf regionale Aktionsbündnisse mit den Kommunen auf. Für gemeinsame Aktivitäten stellen die Kommunen Räumlichkeiten und ihr Netzwerk zur Verfügung, das Fachwissen liefert der Verband. Durch die Reihe „Durchblick behalten im Alltag“ sowie Schulungen, Vorträge und Veranstaltungen werden Vernetzungen mit Beratungsdiensten, kirchlichen Einrichtungen und Wohnberatungsstellen im Verbandsgebiet geknüpft.

Der Geschäftsführer des Blinden- und Sehbehindertenvereins Hamburg (BSVH), Heiko Kunert, berichtete in seinem Impulsvortrag vom ersten Hamburger Fachtag „Sehen im Alter“ im März 2024. Es wurden 16 neue Bündnispartner gewonnen, die interdisziplinär das Thema Sehbeeinträchtigung in der Region bewegen möchten. Weitere Aktivitäten sind geplant.

Sabine Kampmann sprach über ihre Arbeit bei der Blindeninstitutsstiftung Würzburg, wo sie für die kommunale Prävention zuständig ist, besonders für Qualitätsprüfungen in Pflegeheimen. Verschiedene Partner sind eingebunden. Über die bayerische Staatsregierung können kommunale Netzwerke über das bundesweit geltende Präventionsgesetz Zuschüsse von Pflegekassen in Anspruch nehmen.

In der anschließenden Diskussion zeigte sich: Bedarf an Veranstaltungen, die das Verständnis und die Versorgung bei Sehverlust verbessern, gibt es in allen Regionen. Bei der Umsetzung ergeben sich in allen Bundesländern Hürden, etwa bei der Finanzierung von Projekten. Abschließend stellte sich die Frage: Wie kann politische Unterstützung länderübergreifend eingefordert werden? Auch Lobbyarbeit auf Bundesebene wird gewünscht.

Schwerpunktthema: Sehen im Alter

Viele Herausforderungen, um ältere Menschen mit Sehproblemen besser zu versorgen, sind geblieben seit der ersten Fachtagung „Sehen im Alter“ 2014. Zur vierten Fachtagung versammelten sich im Juni in Bonn wieder viele Fachleute. Sie diskutierten über Lösungsansätze, zu denen zum Beispiel telemedizinische Untersuchungen, mobile Beratung und Prävention gehören. Als thematischer Dauerbrenner erwies sich erneut Reha nach Sehverlust.

  • Vernetzung von Fachleuten, Probleme in der Diskussion und gemeinsame Lösungsansätze: Wie die 4. Fachtagung „Sehen im Alter“ „In kleinen Schritten zu großen Zielen“ bewegt.
  • Aktuell verpassen wir viele Chancen“, sagt Prof. Robert Finger in Bezug auf  Früherkennung und Prävention für Augenerkrankungen. Im Interview nennt er Gründe für die schlechte Vorsorge in Deutschland.
  • Was gut läuft und was besser ginge“, wurde in fünf Workshops auf der Fachtagung „Sehen im Alter“ diskutiert.

  • In "Hürden erkannt, noch nicht gebannt" verraten die Ergebnisse einer Umfrage, was Menschen mit Sehbehinderung daran hindert, im vollen Umfang am gesellschaftlichen und politischen Leben teilzunehmen und digitale Angebote zu nutzen.

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