Die im Koalitionsvertrag vereinbarten Ziele zur Inklusionspolitik sind teilweise weit gefasst, teilweise konkret. Wie sehen die Beauftragten für die Belange von Menschen mit Behinderungen der demokratischen Fraktionen im Bundestag bestimmte Aussagen? Wie wollen sie Inklusion voranbringen? Die „Sichtweisen“ haben die Beauftragten von CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der Linken gefragt.

Im Koalitionsvertrag steht: „Wir setzen uns für eine inklusive Gesellschaft im Sinne der VN-Behindertenrechtskonvention ein, in der Menschen mit Behinderungen ihr Recht auf volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe verwirklichen können. Dazu werden wir die Barrierefreiheit im privaten und im öffentlichen Bereich verbessern.“ Wie sollte Ihrer Meinung nach die Barrierefreiheit auch im privatwirtschaftlichen Bereich verbessert werden?
Wilfried Oellers (CDU): Im Koalitionsvertrag haben wir uns als Union und SPD vorgenommen, auch in der Privatwirtschaft auf Barrierefreiheit hinzuwirken und bestehende Gesetze auf bürokratische und rechtliche Hürden zu prüfen. Als Union verstehen wir darunter vor allem, privaten Rechtsträgern den gesamtgesellschaftlichen Nutzen von Barrierefreiheit durch entsprechende Bewusstseinsbildung deutlich zu machen und das Thema Barrierefreiheit auch noch stärker zum Beispiel in der Ausbildung von Architekten und Ingenieuren zu verankern. Auch finanzielle Anreize durch möglichst unbürokratische Förderprogramme sind sehr wichtig.
Heike Heubach (SPD): Auch im privatrechtlichen Bereich – also beim Zugang zu Dienstleistungen, Geschäften oder digitalen Angeboten – sollen Menschen mit Behinderungen nicht länger auf das Entgegenkommen Einzelner angewiesen sein. Statt allgemeiner Regelungen soll künftig stärker auf individuelle Barrierefreiheit geachtet werden: Es geht um passgenaue, praxistaugliche Lösungen für konkrete Situationen. Wenn private Anbieter keine angemessenen Vorkehrungen für einen barrierefreien Zugang treffen, muss ein schneller und unbürokratischer Zugang zur Schlichtungsstelle gewährleistet sein. Dafür ist ein personeller Ausbau dieser Stelle unerlässlich. Zudem braucht es mehr Rechtssicherheit – unter anderem durch die Möglichkeit von Verbandsklagen.
Corinna Rüffer (Die Grünen): Die Ziele der „Bundesinitiative Barrierefreiheit“, die wir als Ampel formuliert, aber wegen des Davonstehlens der FDP nicht mehr umgesetzt haben, bleiben richtig: Deutschland muss in allen Bereichen des öffentlichen und auch des privaten Lebens barrierefrei werden. Mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz sind Verbesserungen im Digitalen erreicht worden. Mobilität, Wohnen usw. dürfen aber nicht ausgeklammert bleiben. Es braucht verbindliche Verpflichtungen privater Anbieter zur Herstellung von Barrierefreiheit in allen Bereichen. Und die Betroffenen müssen auch die Möglichkeit bekommen, ihre Rechte einzuklagen, sonst bleiben die Regeln zahnlos.
Sören Pellmann (Die Linke): Barrierefreiheit muss endlich auch im privaten Sektor verbindlich werden. Die Linke fordert klare gesetzliche Regelungen für Anbieter von Waren und Dienstleistungen – und zwar für bauliche Zugänge ebenso wie für digitale Angebote sowie für die gesamte Kommunikation. Öffentliche Fördermittel sollen künftig immer mit dem Nachweis von Barrierefreiheit verbunden, verbindliche Fristen vorgeschrieben und wirksame Kontrollen sichergestellt werden. Nur so kann echte gesellschaftliche Teilhabe aller ermöglicht und Diskriminierung wirklich wirksam abgebaut werden.


Im Koalitionsvertrag heißt es auch: „Wir entwickeln das Behindertengleichstellungsgesetz weiter, sodass unter anderem alle öffentlich zugänglichen Bauten des Bundes bis 2035 barrierefrei gestaltet werden.“ Die Beauftragten von CDU/CSU und SPD haben wir gefragt: Welche konkreten Maßnahmen sind mit „unter anderem“ gemeint? Die Beauftragten der Opposition haben wir gefragt: Welche weiteren konkreten Maßnahmen erhoffen Sie sich von der Regierung?
Oellers: Im Koalitionsvertrag haben wir uns unter anderem auch darauf verständigt, ein Bundeskompetenzzentrum für Leichte Sprache und Gebärdensprache aufzubauen und die notwendigen Strukturen für die Qualitätsanforderungen an Assistenzhunde, deren Zugangsrechte und deren Zertifizierung sicherzustellen. Dies dürfte dann im Behindertengleichstellungsgesetz entsprechend verankert werden. Weitere mögliche Änderungen sind dem Gesetzentwurf vorbehalten, den wir im Bundestag diskutieren werden.
Heubach: Wir streben an, den Anwendungsbereich des Behindertengleichstellungsgesetzes auf alle öffentlichen Stellen des Bundes auszuweiten – einschließlich der Unternehmen mit überwiegender Bundesbeteiligung. Barrierefreiheit verstehen wir dabei nicht nur als physischen Zugang, sondern als umfassendes Konzept, das auch die Kommunikation einschließt. Dazu zählen beispielsweise die Anwesenheit von Gebärdensprachdolmetscher*innen für gehörlose Menschen oder die Bereitstellung von Dokumenten in Leichter Sprache.
Rüffer: Nicht nur die öffentlich zugänglichen Bundesbauten müssen bis 2035 barrierefrei werden, sondern alle Gebäude des Bundes. Schließlich geht es auch darum, Beschäftigungshindernisse im Sinne beruflicher Inklusion abzubauen. Aber nach den jüngsten Äußerungen des Kanzlers zur Eingliederungshilfe erhoffe ich mir, ehrlich gesagt, kaum etwas nach vorne Weisendes in der Behindertenpolitik von dieser Regierung.
Pellmann: Das Behindertengleichstellungsgesetz darf sich nicht allein auf neue Regelungen für Bundesbauten beschränken. Die Linke fordert, dass Barrierefreiheit überall dort verbindlich wird, wo Menschen am gesellschaftlichen Leben teilnehmen – also bei Dienstleistungen, Kommunikation, Information und im öffentlichen Verkehr. Gerade ein echtes Verbandsklagerecht ist nötig, um Verstöße durchsetzen zu können. Menschen mit Behinderung und ihre Interessenverbände müssen verbindlich beteiligt werden. Auch Diskriminierungsverbote im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz sollten weiter gestärkt werden.


Für welche konkreten Maßnahmen im Bereich Inklusion werden Sie sich als Beauftragte/Beauftragter Ihrer Fraktion für Inklusion und Teilhabe in den kommenden vier Jahren stark machen?
Oellers: Seit vielen Jahren schon ist es ein Herzensanliegen von mir, dass Erhöhungen beim Werkstattentgelt tatsächlich den Beschäftigten zugutekommen und die Leistungen für die Betroffenen transparenter erbracht werden. Ich freue mich, dass im Koalitionsvertrag ein klares Bekenntnis zur Reform des Werkstattentgelts enthalten ist. Gleichzeitig wollen wir Werkstattbeschäftigten mehr Anreize geben, damit sich ein Wechsel auf den ersten Arbeitsmarkt lohnt. Und wir müssen den Reformbedarf beim Bundesteilhabegesetz dringend angehen. Dabei geht es nicht um Leistungskürzungen. Sondern es geht darum, die Leistungserbringung für die Träger zu vereinfachen, zu flexibilisieren und zum Beispiel im Rahmen der Vertrags- und Vergütungsverhandlungen zu beschleunigen, wovon auch die Leistungsberechtigten einen Nutzen haben.
Heubach: Um die Inklusion im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention in ihrer vollen Tiefe zu verwirklichen, ist es erforderlich, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) um den Tatbestand der Diskriminierung aufgrund fehlender Barrierefreiheit zu erweitern. Mindestens jedoch sollte die Verweigerung angemessener Vorkehrungen als eine Form der Benachteiligung anerkannt werden. Dadurch würden alle Adressat*innen des AGG verpflichtet, Barrierefreiheit zu gewährleisten – und betroffenen Personen würde ein einklagbares, subjektives Recht auf Barrierefreiheit eingeräumt. Dieser Schritt wäre von entscheidender Bedeutung für den Aufbau einer inklusiven Gesellschaft, in der gleichberechtigte Teilhabe nicht vom guten Willen Einzelner abhängt, sondern rechtlich ab-gesichert ist.
Rüffer: Die Regierung ist jetzt am Zug, Gesetzesinitiativen vorzulegen. Wir werden diese konstruktiv, aber sehr kritisch begleiten. Angesichts der Versuche von Merz und anderen, Teilhaberechte unter Kostenvorbehalt zu stellen, wird es meiner Ansicht nach allerdings unsere Hauptaufgabe sein, aus der Opposition heraus Widerstand gegen diesen sich abzeichnenden Rollback bei der Inklusion zu organisieren. Wir sind froh, dass wir starke Verbündete in den Verbänden und Initiativen dafür haben. Damit wir nicht rein defensiv bleiben, werden wir außerdem grundlegend daran weiterarbeiten, den Gedanken der Inklusion als Schlüsselbegriff gesellschaftlicher Solidarität zu verankern. Inklusion gehört nicht als letzter Kullerpunkt auf die Tagesordnungen, sondern ins Zentrum.
Pellmann: Inklusion darf kein Nischenthema bleiben, sondern muss als Aufgabe für alle gesehen werden. Mein Ziel als Sprecher ist es, eine gesetzlich einklagbare Barrierefreiheit in allen Lebensbereichen und für alle digitalen Angebote zu schaffen, faire Löhne für Menschen in Werkstätten durchzusetzen, Inklusionsunternehmen besser zu fördern sowie inklusive Bildung mit mehr Fachpersonal zu stärken. Unternehmen sollen stärker Verantwortung übernehmen. Menschen mit Behinderung sollen verbindlich an allen wichtigen politischen Entscheidungen beteiligt werden und ihre Rechte überall verwirklichen können.
Schwerpunktthema: Inklusionspolitik
Auch die Privatwirtschaft müsste stärker zu Barrierefreiheit verpflichtet werden. Das ist nur eine der Forderungen von Selbsthilfe-Verbänden und anderen Organisationen an eine Inklusionspolitik, die ihren Namen verdient. Wie wird diese Politik in der neuen Legislaturperiode aussehen? Werden die erhofften Gesetzesreformen kommen? Vertreterinnen und Vertreter aus der Politik und von Organisationen haben verschiedene Meinungen dazu.
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