Dr. Stefan Insam ist stellvertretender Landesvorsitzender des Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbunds (BBSB) und sehbehindert. Auf welche Barrieren er im Straßenverkehr und bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel stößt, schildert er im Interview mit Gundhild Heigl, Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit des BBSB. Er erklärt auch, was ihm und anderen Menschen mit Sehbehinderung bei der Orientierung hilft.
Herr Dr. Insam, können Sie uns etwas über Ihre Erfahrungen bei der Navigation in städtischen Umgebungen erzählen? Welche Herausforderungen sind Ihnen als jemand, der eine Sehbehinderung hat, dabei begegnet?
Was viele vielleicht nicht wissen: Für einen hochgradig sehbehinderten Menschen ist es ähnlich schwierig, sich in unbekannten Gegenden zurechtzufinden, wie für einen blinden Menschen. Schon als Jugendlicher habe ich mir angewöhnt, bereits vor dem Aufbruch die gewünschte Adresse und die dortige Umgebung sowie meinen Weg dorthin im Stadtplan zu studieren und mir einzuprägen. Mittlerweile nutze ich statt eines Stadtplans auf Papier meist Google Maps, weil ich damit dank automatischer Suchfunktion die Zieladresse schneller finde und mir mittels elektronischer Vergrößerung die Umgebung wesentlich besser ansehen kann. Durch jahrelanges Training präge ich mir heutzutage neue Gegenden recht gut ein, sodass ich einmal gegangene Wege oft Jahre später aus dem Gedächtnis abrufen kann. Glücklicherweise habe ich auch ein gutes räumliches Orientierungs- und Lichteinfall-Analysevermögen, sodass ich in unbekannter Gegend ein Gefühl für die richtige Richtung habe.
Auf all diese Punkte bin ich schon allein deswegen angewiesen, weil ich die Straßenschilder und Hausnummern sowie Stadtpläne auf Papier nicht mehr lesen kann. Deswegen bin ich auch beim Auffinden neuer Adressen regelmäßig darauf angewiesen, vor Ort Passanten nach der genauen Hausnummer zu fragen.
Welche Bedeutung hat barrierefreie Infrastruktur für Sie persönlich hinsichtlich Ihrer Mobilität und Unabhängigkeit im Alltag?
Da ich persönlich im Alltag sehr gern und auch viel zu Fuß unterwegs bin, sei es rein aus Bewegungsdrang oder um von A nach B zu kommen, ist mir barrierefreie Infrastruktur für meine Mobilität und Unabhängigkeit im Alltag äußerst wichtig. Zwar werden Kreuzungen und Haltestellen zunehmend barrierefrei ausgebaut, beispielsweise mit Zusatzeinrichtungen an Ampelmasten oder mit Leitstreifen, allerdings habe ich den Eindruck, dass in den letzten Jahren die Rücksichtnahme durch andere Verkehrsteilnehmer drastisch abgenommen hat. Da werden Fahrräder und E-Scooter beliebig auf den Gehsteigen abgestellt, Werbeschilder stehen vor Geschäften, die Außengastronomie nimmt weniger Rücksicht auf Fußgänger, und Lieferwagen stehen „nur mal kurz“ auf dem Gehsteig, da ja bei Blockade einer Fahrspur auf der Straße Strafen fällig würden.
Haben Sie positive Erfahrungen mit bestimmten barrierefreien Elementen in Ihrer Stadt München gemacht, die Ihnen geholfen haben, sich sicherer und selbstständiger zu fühlen? Wenn ja, welche waren das?
Hauptsächlich helfen mir sehr gute Beleuchtung, große sowie farbige Hinweisschilder, sehr guter Kontrast und deutliche Ansagen. Diese Elemente wurden sowohl bei der Renovierung des U-Bahnhofs Sendlinger Tor als auch in den neueren S-Bahn-Zügen bereits umgesetzt. Insbesondere deutliche Farben helfen mir bei der Orientierung, denn statt Liniennummern oder den Text von Zugzielanzeigern lesen zu müssen, sagen die jeweiligen Farben schon viel aus, wenn man sich auskennt. Farben helfen aber nicht allen Menschen mit einer Sehbehinderung.
Welche Verbesserungen würden Sie sich hinsichtlich der barrierefreien Gestaltung von Gehwegen, Straßen und öffentlichen Verkehrsmitteln wünschen, um Ihre Lebensqualität als sehbehinderter Mensch zu steigern?
Breitere Gehwege, die frei von Gegenständen bleiben, gute Ausleuchtung von Unterführungen und Untergrund-Bahnhöfen, deutliche und kontrastreiche Schilder mit größeren Schriften auf Augenhöhe sowie klare und deutliche Ansagen würden gewaltig helfen.
Können Sie uns von einer Situation berichten, in der Sie aufgrund mangelnder Barrierefreiheit in der Infrastruktur auf Probleme gestoßen sind? Wie haben Sie diese Situation gemeistert?
Ich war mit einem Kreuzfahrtschiff auf der Donau unterwegs, wir haben in Wien Station gemacht, und ich wollte mit einem blinden Bekannten in die Innenstadt. Eine vorherige kartografische Vorbereitung auf dem Kreuzfahrtschiff war mir mangels Laptop nicht möglich. Ich wusste nur, in welcher Himmelsrichtung die Innenstadt liegen müsste, allerdings war ein selbstständiges Finden des Weges und vor allem das Überqueren mehrerer Hauptverkehrsstraßen ohne Kenntnis der nächstgelegenen Querungsstellen oder Unterführungen sehr mühsam. Geholfen hat mir, wie in solchen Situationen üblich, der offene Umgang mit meiner Sehbehinderung, also das häufige Fragen von Passanten: „Entschuldigung, ich bin hier fremd und sehe schlecht, können Sie mir bitte sagen, wie ich nach da und da komme?“ Introvertierte Personen hätten wahrscheinlich deutlich mehr Schwierigkeiten gehabt.
Wie wichtig ist es Ihrer Meinung nach, dass die Öffentlichkeit, einschließlich Stadtplaner und Verkehrsteilnehmer, sich der Bedürfnisse und Herausforderungen sehbehinderter Menschen bewusst sind?
Ich erachte es als äußerst hilfreich, wenn sehr viele Personen die Einschränkungen sehbehinderter Menschen im alltäglichen Straßenverkehr kennenlernen würden, indem sie sich mit Simulationsbrillen darin zurechtfinden müssten. Vielleicht würde dann eine gewisse Aufmerksamkeit generiert. Das Hauptproblem jedoch ist: Sehbehinderten Menschen sieht man im Alltag häufig ihre Einschränkung nicht an. Da sie meist ohne weißen Stock unterwegs sind, nimmt niemand von ihnen Notiz und hilft oder warnt vor Problemstellen. Personen, die mit weißem Stock unterwegs sind, werden häufiger angesprochen und vor Gefahrenstellen gewarnt. Gerade hier wäre mehr Aufklärung wichtig.
Welche Botschaft möchten Sie an Entscheidungsträger und die breite Öffentlichkeit senden, um die Schaffung einer inklusiven und barrierefreien Umgebung für Menschen mit Sehbehinderungen voranzutreiben?
Unsere Gesellschaft wird immer älter, und mit zunehmendem Alter werden bei allen Menschen die Augen schwächer. Neben der allseits bekannten Altersweitsichtigkeit treten vermehrt diabetische Retinopathie, Altersabhängige Makuladegeneration, Katarakt (Grauer Star), Glaukom (Grüner Star) und Netzhautablösung auf. Die Wahrscheinlichkeit, Personen im Alter ab 60 Jahren anzutreffen, die keine Seheinschränkung haben, geht gegen Null. Daher ist es wichtig, dass sich unsere Gesellschaft darauf einstellt und insbesondere Barrieren im öffentlichen Raum abbaut. Es ist nicht mehr eine Frage, ob jemand eine Seheinschränkung erleidet, sondern vielmehr, wann es sie oder ihn treffen wird.
Schwerpunktthema: Verkehr
Vielfältig und tückisch sind die Barrieren, die sehbehinderten und blinden Menschen vielerorts im Verkehr begegnen: Mitten auf dem Gehweg abgestellte E-Roller, Ampeln ohne akustisches Signal und fehlende Leitstreifen sind nur drei Beispiele. Im Schwerpunkt dieser Sichtweisen-Ausgabe geht es um „schlimme Kreuzungen“, Orientierungshilfen und nützliche Internetseiten zum Thema.
- "Wo Langstock und Gehör nicht helfen" muss die "schlimmste Kreuzung" sein. Über Erfolge und Anregungen zur Aktion des diesjährigen Sehbehindertentages.
- Mit "Navi im Handy und im Kopf" ist Dr. Stefan Insam unterwegs und schildert, was ihm bei der Orientierung im Straßenverkehr hilft.
- Die "Verkehrsmeldungen" liefern Informationen und Hinweise rund um das Thema Verkehr.