Das Düsseldorfer Schauspielhaus hat Kurs Richtung Inklusion genommen. Wie anspruchsvoll und anstrengend das ist, erfahren die Beteiligten gerade. Doch sie sind überzeugt, dass das Theater der Zukunft die ganze Gesellschaft repräsentieren muss: auf, vor und hinter der Bühne. Über die Kursänderung ihres Theaters berichten Stefan Fischer-Fels, künstlerischer Leiter des Jungen Schauspiels und Mitglied im Leitungsteam des Düsseldorfer Schauspielhauses, und Kirstin Hess, Dramaturgin am Jungen Schauspiel.
Stefan Fischer-Fels: Das Düsseldorfer Schauspielhaus hat sich spät auf den Weg Richtung Barrierefreiheit gemacht. Was ich seit anderthalb Jahren weiß, hätte ich gern vor zehn Jahren gewusst, aber da habe ich mich noch nicht umfassend für Barrierefreiheit interessiert. Wir sind Teil des Projekts Access Maker der Initiative Un-Label. Drei Theater in Nordrhein-Westfalen bilden sich nun über drei Jahre fort: das Theater Dortmund, die Comedia in Köln und das Düsseldorfer Schauspielhaus.
Ich habe einen einwöchigen Kurs zur „Ästhetik der Zugänglichkeit“ gemacht, und danach war mir klar: Was ich hier erfahren habe, müssen wir als Haus Schritt für Schritt umsetzen. Wir sind bisher nicht inklusiv, wir lassen manche Menschen nicht teilhaben an unseren künstlerischen Ergebnissen.
Kindertheater ist eine fantastische Möglichkeit, um mit Inklusion zu beginnen. Kinder sagen nicht: Aber Theater war doch früher anders! Wenn es gut ist und die Regeln transparent, dann machen sie mit. Hauptsächlich aber habe ich gelernt, was die Engländer eine Dramaturgy of Impairment nennen: Geschichten erzählen über Menschen, die in keiner Weise perfekt sein müssen – weder körperlich noch geistig noch sonst irgendwie. Wir sind alle Menschen mit Beeinträchtigungen, und das müssen wir feiern, damit umgehen, daraus leben und damit Geschichten erzählen. Nicht über den genormten Körper oder den genormten Menschen. Das ist eine richtige Philosophie, von der ich überzeugt bin, und solche Geschichten möchte ich erzählen.
Mir wurde klar, dass für sehbehinderte Menschen Stücke, die keine Audiodeskription (AD) haben, nicht zugänglich sind. Das Gleiche gilt für Gebärdensprache. Um Barrierefreiheit umzusetzen, muss man viel wissen, aber uns wurde gesagt: „Warte nicht, bis du alles kapiert hast, dann sind zehn Jahre vorbei. Fang an, mach Fehler, geh den nächsten Schritt.“ Wir gehen jetzt konkrete Schritte, um Barrieren in den Geschichten auf der Bühne zu verhindern. Mit „Das Mädchen, das den Mond trank“ haben wir ein Stück geschaffen, in dem wir zum ersten Mal eine integrierte Audiodeskription versuchen.
Integrierte Audiodeskription
Stefan Fischer-Fels: Wir haben uns am Jungen Schauspiel für eine integrierte AD entschieden, weil wir möchten, dass die Kinder keine Kopfhörer aufsetzen müssen, sondern die Atmosphäre und die Reaktionen mitbekommen. Wenn wir damit Erfahrung haben, kann man vielleicht andere Wege gehen.
Kirstin Hess: Wir haben uns beraten lassen von der Journalistin Amy Zayed, die selbst blind ist, und HörFormArt, Leuten, die im Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen traditionelle Audiodeskription anbieten. Wir waren uns nicht sicher, ob für Kinder traditionelle AD so toll wäre – zusätzlich zu dem, was sie von der Bühne hören. Wir wollten, dass zumindest Kinder die Informationen zur gleichen Zeit bekommen wie alle im Saal.
Am Theater wird mit künstlerischen Routinen gearbeitet, die Sicherheit geben. Die verlassen wir jetzt, weil wir Dinge tun, die wir vorher nicht getan haben. Das ist auch in Ordnung, weil Menschen, die auf Barrieren stoßen, ja den ganzen Tag mit Unsicherheiten umgehen müssen. Für uns ist das neu, aber auch künstlerisch inspirierend, wenn man sich etwa überlegt: Wie kann ich einen Dialog so gestalten, dass auch, wenn ich nicht gut oder gar nicht sehe, mitbekomme, wer gerade auftritt? Das haben wir auch versucht, in den Kostümen umzusetzen: In „Das Mädchen, das den Mond trank“ klackern die Absätze von Gherland laut, und die Figur der Ignatia klimpert immer mit ihren langen Nägeln. So ist klar: Ignatia tritt auf.
Stefan Fischer-Fels: Wir hatten sehbeeinträchtigte Kinder hier und waren hinterher sehr berührt, weil sie mit begeistertem Applaus zeigten, dass sie zum ersten Mal Theater so intensiv erleben konnten.
Bauliche Barrierefreiheit
Stefan Fischer-Fels: Baulich sind die Häuser des Düsseldorfer Schauspielhauses noch nicht barrierefrei. Es gibt Rampe und Aufzug und behindertengerechte Toiletten, aber noch kein umfassendes Wegeleitsystem.
Kirstin Hess: Das Große Haus steht unter Denkmalschutz, darum ist es manchmal schwer, etwas zu verändern. Es wäre eine wichtige Frage, ob Inklusion über Denkmalschutz gestellt werden kann. Aktuell ist das nicht so.
Beratung gewünscht
Kirstin Hess: Die Kolleginnen und Kollegen beim Einlass sind sehr offen für das Thema Inklusion, aber sie benötigen Hinweise, was Menschen brauchen, wenn sie beispielsweise sehbeeinträchtigt sind. Innerhalb eines sich transformierenden Hauses kann das bedeuten, dass ich im Moment des Selberlernens bereits andere weiterbilden muss. Da braucht es Beratung von außen. Wir alle müssen noch viel lernen. Für mich ist unser Theater logisch in seiner Struktur, aber nicht für jeden da draußen. Wir können Veränderung nicht allein herbeiführen, sondern brauchen Leute, die Experten sind, weil sie von Barrieren betroffen sind. Das ist in anderen Theatern genauso: Wenn man den Weg beginnt, kommen immer mehr Fragen auf.
Stefan Fischer-Fels: Immer wenn wir uns mit einem Inklusions-Thema beschäftigen, holen wir Experten dazu. Ich würde auch gern einen lockeren Beirat von Menschen mit verschiedenen Behinderungen gründen, mit denen wir Dinge systematisch besprechen. Unsere Aufgabe ist es, Kunst zu machen, jede Veränderung kostet zusätzlich Energie, Geld, Zeit und Konzentration. Es wäre toll, wenn wir eine auf vier Jahre angelegte Stelle für Inklusionsberatung einrichten könnten – noch wissen wir aber nicht, wer uns Geld dafür geben könnte. Für mich bedeutet es aktuell viele zusätzliche Aufgaben: das Thema in die Gremien bringen, Kontakte knüpfen, Termine machen usw.
Touchtable und Touchtour
Kirstin Hess: Wir haben seit Kurzem für ausgewählte Stücke einen Touchtable im Foyer stehen und wollen ihn nach und nach für alle Stücke anbieten. Es ist schön, die Gäste so willkommen zu heißen. Man kann die Materialien, die später auf der Bühne vorkommen werden, kennenlernen, indem man sie auch haptisch wahrnimmt, zum Beispiel bestimmte Stoffe. Außerdem kann man einen Stift auf Codefelder halten und hört dann Informationen, die wir vorbereitet haben. So stellen wir zum Beispiel die Figuren vor. Vor manchen Vorstellungen bieten wir auch eine Touchtour an: Ausgewählte Kostümteile sind auf einem Ständer ertastbar, etwa die Handschuhe mit den langen Nägeln der Ignatia.
Mit Behinderung auf die Bühne
Stefan Fischer-Fels: Wir haben die Schauspielerin Yulia Yáñez Schmidt engagiert, die mit einer Behinderung eine Schauspielausbildung gemacht hat. Bevor sie den Beruf lernen konnte, hat sie viel Diskriminierung erlebt, weil zu ihr gesagt wurde: „Suchen Sie sich einen Platz hinter der Bühne – Sie werden eh keine Rollen bekommen.“ Darüber spricht sie auch in dem Dokumentarfilm „Spielen oder nicht spielen“.
Wir haben Yulia engagiert, weil sie eine großartige Schauspielerin ist. Ausgebildet wurde sie in der ersten inklusiven Schauspielschule, die das Theater Wuppertal erfunden hat (vgl. S. 24). Denen gebührt ein Denkmal, weil sie gesagt haben: Wir müssen Pioniere sein! Yulia Yáñez Schmidt spielt alles: eine Königin, eine Wolke oder einen Räuber in Schillers Drama – eben alles, was auf einer Bühne vorkommt. In ihren Rollen geht es nicht um Behinderung. Sie hat uns freundlich darauf aufmerksam gemacht, dass Bühnenbilder, die komplizierte Treppen haben oder sich drehen, für behinderte Schauspieler nicht zugänglich sind. Dass wir in jeder Hinsicht sensibel sein müssen für die Bedürfnisse jedes Menschen. Ich versuche immer, im Einzelfall das Generelle zu verstehen. Und wenn der Einzelfall sagt, wir müssen auf den Menschen achten, auf seine Stärken, seine Schwächen, dann müssen wir lernen, generell darauf zu achten.
Wir haben zum Beispiel gelernt, was eine Relaxed Performance ist, nämlich dass man Menschen mit neurodiversen Merkmalen keinen heftigen Licht-Ton-Erlebnissen aussetzen darf, dass es offene Türen gibt und sie sich in einen anderen Raum zurückziehen und wiederkommen können.
Schauspielerinnen und Schauspieler mit Behinderung haben auch künftig in Düsseldorf eine Chance, auf der Bühne zu stehen. Es muss natürlich menschlich und künstlerisch passen. Das Problem ist jedoch, dass Menschen mit Behinderung keine Chance haben, an eine Schauspielschule zu kommen. Dieses Problem muss politisch gelöst werden, indem man mit Schauspielschulen und der Politik über die Zugangsbeschränkungen spricht. Die Schauspielschulen glauben zu wissen, was gebraucht wird und merken nachträglich, dass die Theater schon weiter sind und Bedarf haben an einer weitgefassten Diversität.
Kirstin Hess: Natürlich haben wir auch Formate auf Bühnen, wo Leute ohne Ausbildung spielen, sie können es aber zum Beispiel nicht so oft wiederholen, wie wir das im Repertoire zeigen wollen. Oder haben nicht so oft Zeit, weil sie einen Brotberuf haben. Lange wurden auch dicke Menschen oder Leute mit sichtbarem Migrationshintergrund nicht auf Schauspielschulen aufgenommen. Das kann man sich heute fast nicht mehr vorstellen. Dieselbe Entwicklung wird es in inklusiven Fragen geben. Die Schulen müssen sich verändern und werden es auch.
Cripping up
Stefan Fischer-Fels: Wir haben vor sieben Jahren ein mutmachendes Stück über einen Jungen mit Behinderung gemacht, gespielt von einem der besten Schauspieler unseres Ensembles – er hat keine Behinderung, es handelte sich also wohl um eine Form von Cripping up (s. Glossar, S. 34). Das würde ich heute nicht mehr so machen. Damals war ich begeistert von der grandiosen Darstellung. Und habe es nicht in Frage gestellt.
Wenn ich die Diversitätsdebatte richtig verstanden habe, muss ich ein diverses Ensemble gründen, zu dem beispielsweise auch Menschen mit Behinderungen gehören. Das heißt nicht, dass behinderte Menschen Figuren mit Behinderung spielen müssen. Das wäre eine neue Form von Diskriminierung.
Finanzielle Förderung
Stefan Fischer Fels: Um das Projekt fortführen zu können, bemühen wir uns um Fördergelder. Solange wir die Verantwortung haben, wird Inklusion weiterentwickelt werden. Wenn irgendwann neue Leute kommen, ist es an der Politik, einzufordern, dass Inklusion weiter Thema bleibt. Inklusion könnte ein Kriterium bei Ausschreibungen sein, wenn man Intendantinnen oder Museumsleiter sucht: Beschäftigst du dich damit, hast du Ahnung, hast du Kompetenz, möchtest du Kompetenz erwerben, wo kommt das in deinem Kopf vor? Das wären Fragen, die man stellen könnte, wenn man Stellen besetzt.
Kultur für alle
Stefan Fischer-Fals: Der Workshop hat etwas in mir zum Klingen gebracht, was schon vorher da war. Politisch setze ich mich für alle möglichen Formen von Gerechtigkeit ein, und ich finde es ungerecht, wenn Menschen nicht teilhaben können. Und wir haben immer noch nicht alle eingeladen. Ich habe die Vision von Kultur für alle. Die möchte ich Schritt für Schritt verwirklichen. Das ist eine Lebensaufgabe.
Wir können hier im Kinder- und Jugendtheater viel ausprobieren. Im Großen Haus gibt es jetzt eine neugierige Offenheit für dieses Thema, das entwickelt sich ein bisschen langsamer, weil ein großes Schiff länger braucht, um die Richtung zu wechseln. Die Vision ist eine ähnliche wie bei uns, nämlich ein Theater für alle Menschen einer Stadt zu sein.
Wir tauschen uns innerhalb der Bühnen des Schauspielhauses aus. Zum Beispiel über die Erfahrung mit Relaxed Performances für Schulklassen: Die Lehrerinnen und Lehrer waren irritiert, weil sie versuchen, den Kindern Respekt fürs Theater beizubringen, etwa nicht ihr Frühstücksbrot auszupacken. Und wir haben gesagt: Die Türen sind auf, ihr könnt rausgehen, wann ihr wollt, fühlt euch wohl! Das heißt: Man muss reden, reden, reden. Sagen, was wir vorhaben und warum, und dazu einladen, uns auf diesem Weg zu begleiten. Denn das ist ja kein Weg eines Theaters, sondern der Weg einer Gesellschaft.
Dokumentarfilm „Spielen oder nicht spielen“
Die Schauspielerin Yulia Yáñez Schmidt, die zum Ensemble am Düsseldorfer Jungen Schauspiel gehört, hat ein Carbonbein und eine weitere Behinderung. Sie ist eine der beiden Protagonistinnen des Dokumentarfilms „Spielen oder nicht spielen“.
Der Film zeichnet den schwierigen Weg der zwei Frauen mit Behinderung zu Schauspielerinnen nach. Yulia Yáñez Schmidt hat ihre Ausbildung am Inklusiven Schauspielstudio am Schauspiel Wuppertal gemacht. Dort werden seit der Spielzeit 2019/20 Menschen mit Behinderung professionell qualifiziert. Der Film steht in der ARD-Mediathek bis zum 7. Oktober 2025 zur Verfügung.
Schwerpunkt Theater
Vorhang auf für: Theater! Wie Stücke mit künstlerischer oder traditioneller Audiodeskription für sehbehinderte und blinde Menschen zugänglich gemacht werden, berichten Theatermenschen vom Düsseldorfer Schauspielhaus und vom Projekt „Berliner Spielplan Audiodeskription“. Sie geben Einblick in die Herausforderungen und erzählen, wie aus anfänglicher Unkenntnis Begeisterung für das Thema Inklusion wurde.
- "Ein Schiff wechselt die Richtung" und nimmt Kurs auf das Theater der Zukunft: Über Inklusion, Barrierefreiheit und neue Wege berichten der künstlerische Leiter des Jungen Schauspiels Stefan Fischer-Fels und Dramaturgin Kirstin Hess.
- Audiodeskription in Berliner Theatern zu etablieren: Das ist das Ziel des Projekts „Berliner Spielplan Audiodeskription“. Was wurde bis jetzt erreicht und warum ist da "noch viel Luft nach oben"?