Schwächer formuliert als der vorherige Koalitionsvertrag, aber mit Möglichkeiten, für Inklusion aktiv zu werden: So sieht die Justiziarin und stellvertretende Geschäftsführerin des DBSV, Christiane Möller, den Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesregierung. Im Interview mit den „Sichtweisen“ erklärt sie, wo Barrierefreiheit vorangetrieben werden muss und welche Schutzlücken in Gesetzen zu schließen sind.

Frau Möller, im Koalitionsvertrag der neuen Regierung werden einige Vorhaben aufgeführt, die in den kommenden vier Jahren angepackt werden sollen. Wie zufrieden ist der DBSV damit?
Der Koalitionsvertrag hat wieder ein eigenes Kapitel speziell zum Thema Inklusion. Die Bundesregierung bekennt sich dazu, die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention als Maßstab zu nehmen. Die Belange behinderter Menschen werden darüber hinaus in anderen Kapiteln des Koalitionsvertrages angesprochen, zum Beispiel im Bereich der Gesundheitsversorgung. An anderen Stellen vermissen wir die ausdrückliche Einbeziehung, etwa bei der Erarbeitung von Vorschlägen für eine geplante große Sozialstaatsreform. Die Ziele und vor allem die notwendigen Maßnahmen für mehr Teilhabe behinderter Menschen sind insgesamt deutlich schwächer formuliert als im Koalitionsvertrag der vorherigen Bundesregierung. Das ist eine Enttäuschung und ein Rückschritt.
Letztlich kommt es aber darauf an, was politisch aus den Möglichkeiten gemacht wird. In der letzten Wahlperiode ist der starke Koalitionsvertrag verpufft. Bleibt zu hoffen, dass wir dieses Mal den umgekehrten Effekt haben.
„In der Privatwirtschaft wirken wir auf Barrierefreiheit hin“, steht im Koalitionsvertrag. Das ist nicht die Verpflichtung zur Barrierefreiheit, die sich viele gewünscht hätten. Glauben Sie, die Regierung wird dennoch etwas tun, um die privaten Anbieter stärker in die Pflicht zu nehmen? Wie könnte sie darauf hinwirken?
Sich um Barrierefreiheit zu kümmern ist keine soziale Wohltat, sondern pure Notwendigkeit, um den Herausforderungen in einer alternden Gesellschaft mit vermehrt beeinträchtigten Menschen sowie dem demographisch bedingten Fachkräftemangel zu begegnen. Das muss endlich bei politischen Entscheidungsträgern ankommen. Auf die Barrierefreiheit lediglich hinwirken zu wollen, ist nicht genug.
Wir sollten auf ein anderes Zitat aus dem Koalitionsvertrag fokussieren: „Dazu werden wir die Barrierefreiheit im privaten und im öffentlichen Bereich verbessern.“ „Werden … verbessern“ ist eine klare Ansage. Dazu kann man die gesetzlichen Grundlagen überarbeiten. Man kann finanzielle Anreize über Förderprogramme setzen, um Barrierefreiheit voranzubringen. Ein Hebel wäre konkret das Investitionsprogramm in die Infrastruktur, um nur ein Beispiel zu nennen.
Wir sind überzeugt, dass beides (gesetzliche Pflicht und Förderung) Hand in Hand gehen muss. Allein auf den guten Willen zu setzen und gänzlich auf gesetzliche Verpflichtungen zu verzichten, reicht jedenfalls nicht. Das hat uns die Erfahrung der vergangenen Jahrzehnte gezeigt.
Können Sie ein Beispiel für Barrierefreiheit im privaten Bereich nennen, wo Unternehmen verpflichtet werden könnten?
Wir brauchen umfassende und rechtlich gut durchsetzbare Verpflichtungen zur Barrierefreiheit, die alle öffentlich zugänglichen Waren und Dienstleistungen einbeziehen. Seit dem 28. Juni ist das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) in Kraft. Dass es dieses Gesetz gibt, ist auch dem über zehn Jahre andauernden Engagement der Selbsthilfe, insbesondere des DBSV, zu verdanken. Für bestimmte Produkte und Dienstleistungen werden nun Barrierefreiheitsanforderungen formuliert.
Vieles bleibt aber dort außen vor, was im Alltag der Menschen eine große Rolle spielt: seien es Postdienstleistungen, Haushaltsgeräte oder auch Medizinprodukte etwa für die Blutzuckertherapie bei Diabetes. Beruflich benötigte Hard- und Software ist gänzlich ausgeschlossen. Das BFSG kann also nur ein erster Schritt sein auf dem Weg zur lückenlosen Barrierefreiheitsverpflichtung und damit zu gleichberechtigter Teilhabe.
Der DBSV und andere Organisationen mahnen schon lange Reformen beim Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG), beim Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) und beim Barrierefreiheitsstärkungsgesetz an. Zur Erinnerung: Worum geht es in den Gesetzen?
Alle drei Gesetze enthalten grundlegende Regelungen zur Barrierefreiheit und Nichtdiskriminierung. Vereinfacht kann man sagen: Während im BGG bislang eher das Verhältnis der Bürger zum Staat angesprochen ist, zum Beispiel mit Regelungen zu barrierefreien Webseiten von Bundesbehörden oder zur baulichen Barrierefreiheit dieser Einrichtungen, geht es im AGG um das Diskriminierungsverbot bei Arbeitsverhältnissen und weiteren privatrechtlichen Verträgen. Das BFSG wiederum ist ein Spezialgesetz für die Barrierefreiheit bestimmter Produkte und Dienstleistungen.
Bei allen drei Gesetzen sehen wir einen großen Reformbedarf, um einen lückenlosen Schutz vor Diskriminierung und damit verbunden eine umfassende Pflicht zur Barrierefreiheit effektiv abzusichern. Wir haben im DBSV und auch mit den Verbänden im Deutschen Behindertenrat einen ganzen Katalog von Maßnahmen zusammengetragen, die umgesetzt werden müssen.
Der Koalitionsvertrag kündigt an: Wir entwickeln das Behindertengleichstellungsgesetz weiter, sodass unter anderem alle öffentlich zugänglichen Bauten des Bundes bis 2035 barrierefrei gestaltet werden. Das ist doch immerhin mal eine konkrete Ankündigung, oder?
Sich ein zeitlich konkretes Ziel zur Barrierefreiheit von Bundesbauten zu setzen, ist gut. Wir haben aber viele andere Baustellen im BGG. Das beginnt mit schärferen Regeln bei der Verpflichtung öffentlicher Stellen zur digitalen Barrierefreiheit ihrer Webseiten und Apps. Des Weiteren brauchen wir Regeln für angemessene Vorkehrungen zur Vermeidung von Benachteiligungen im Einzelfall. Schließlich benötigen wir dringend effektivere Rechtsdurchsetzungsmöglichkeiten bei Verstößen gegen das Benachteiligungsverbot.
Wie wird sich Inklusion Ihrer Meinung nach in den nächsten vier Jahren entwickeln, wenn man den Koalitionsvertrag als Grundlage betrachtet?
Der Koalitionsvertrag bietet Ansatzmöglichkeiten. Letztlich werden wir die aktuelle Bundesregierung an ihren Taten messen und sie immer wieder daran erinnern, was zu tun ist, um gleichberechtigte Teilhabe in allen Lebensbereichen zu verwirklichen.
Der Koalitionsvertrag steht aber nicht isoliert da. Es gibt immense Herausforderungen: weltweite Konflikte, der zunehmend spürbare Klimawandel, die demographische Entwicklung in unserem Land, stark strapazierte Sozialleistungssysteme und auch innerstaatlich ein Erstarken rechter Kräfte, denen weder Minderheitenschutz noch die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen wichtig sind.
Wer sein Regierungsprogramm mit „Verantwortung für Deutschland“ überschreibt, muss auch Verantwortung für die mehr als zehn Prozent der Bevölkerung übernehmen, die mit einer Behinderung leben. Eine solche Regierung muss Demokratie und Rechtsstaatlichkeit schützen. Sie darf keinen Sozialabbau zu Lasten behinderter Menschen betreiben, sondern sie muss ihnen endlich gleichberechtigte Teilhabechancen ermöglichen. Der DBSV wird deshalb die Vorhaben der neuen Bundesregierung in den kommenden vier Jahren konstruktiv und kritisch mitgestalten.
Schwerpunktthema: Inklusionspolitik
Auch die Privatwirtschaft müsste stärker zu Barrierefreiheit verpflichtet werden. Das ist nur eine der Forderungen von Selbsthilfe-Verbänden und anderen Organisationen an eine Inklusionspolitik, die ihren Namen verdient. Wie wird diese Politik in der neuen Legislaturperiode aussehen? Werden die erhofften Gesetzesreformen kommen? Vertreterinnen und Vertreter aus der Politik und von Organisationen haben verschiedene Meinungen dazu.
- „Wir werden überall genau hinschauen“, verspricht Christiane Möller im Interview zu Möglichkeiten und Schwächen für Inklusion im aktuellen Koalitionsvertrag der Bundesregierung.
- Das planen CDU/CSU und SPD für Inklusion laut Koalitionsvertrag.
- Die Beauftragten für die Belange von Menschen mit Behinderungen von CDU, SPD, Grünen und Linken antworten auf die Frage: "Wie gelingt „volle Teilhabe“?"
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