Sehen im Alter: In kleinen Schritten zu großen Zielen

· Ute Stephanie Mansion

Die Vielfalt der Themen bei der vierten Fachtagung „Sehen im Alter“ war groß. Fachleute aus der Augenmedizin und verschiedener Organisationen hatten sich im Juni dazu in Bonn getroffen. Neue Forschungsergebnisse wurden vorgestellt und Probleme in der Versorgung älterer seheingeschränkter Menschen erörtert. Lösungen wird man nur gemeinsam erreichen, wurde festgestellt, und auch die Politik und die Kostenträger seien dafür verantwortlich.

Professor Robert Finger steht am Rednerpult. Er trägt ein weißes Hemd und ein dunkes Sakko. Im Vordergrund sind verschwommen Teilnehmende der Fachtagung von hinten zu sehen, die dem Vortrag lauschen.
Professor Robert Finger bei der 4. Fachtagung "Sehen im Alter"

Am Anfang stand ein Blick zurück: Tagungspräsident Prof. Dr. Focke Ziemssen, Direktor der Uni-Augenklinik Leipzig, erinnerte an die erste Fachtagung „Sehen im Alter“ 2014 und räumte ein, dass es noch viele Baustellen gebe, die nicht abgearbeitet seien. Sie zu bewältigen sei kein Sprint, sondern ein Marathon.

DBSV-Präsident Hans-Werner Lange hob hervor, wie wichtig es sei, Wissen zu verknüpfen, zum Beispiel auf der Fachtagung, um ein gesamtheitliches Bild in die Politik zu tragen. „Im Gesundheitsbereich kommen wir nur weiter, wenn wir uns eng vernetzen“, sagte Lange.

In Vorträgen und Diskussionen wurden Herausforderungen und Lösungsansätze thematisiert.

Prof. Dr. phil. Christine Holmberg von der Medizinischen Hochschule Brandenburg betonte, dass es Aufgabe der Gesundheitsversorger sei, Informationen zur Low-Vision-Versorgung (Versorgung bei geringem Sehvermögen) umfassend und verständlich zur Verfügung zu stellen. Gesundheitsversorger seien alle, die mit Patienten arbeiten, und das Gesundheitssystem selbst. Informationen müssten öfter und auf unterschiedliche Art und Weise dargestellt werden.

Holmbergs Team empfiehlt die Förderung der interdisziplinären Zusammenarbeit in der Low-Vision-Versorgung, Fortbildungen für in der Versorgung Tätige und regionale Netzwerke. Beim Thema „Reha nach Sehverlust“ sieht sie die Augenärzteschaft in der Verantwortung, diese Form der Reha auf den Weg zu bringen.

Seniorenheimbewohner telemedizinisch untersucht

Großes Interesse bei den Tagungsteilnehmern fand der Vortrag von Dr. Leon von der Emde von der Uni-Augenklinik Bonn: Er stellte ein Modellprojekt zur teleophthalmologischen Versorgung in Seniorenheimen vor. Wie schon Studien zuvor gezeigt hatten, sind Bewohner von Pflegeeinrichtungen augenmedizinisch unterversorgt. Das wurde durch das Modellprojekt bestätigt: 109 Bewohnerinnen und Bewohner von drei Einrichtungen in Bonn waren durch Optometristen untersucht worden, die verschiedene bildgebende Verfahren anwendeten. Die Bilder sichteten Ärzte der Uni-Augenklinik Bonn. Sie bewerteten die Bildqualität als durchschnittlich sehr gut – Diagnosen sind also auf diesem Weg möglich. Bei der Untersuchung traten viele Augenkrankheiten zutage, über deren Existenz nur etwa ein Drittel der Betroffenen bereits vorher informiert war. Fehlende Mobilität und fehlende Begleitung sind die Hauptgründe, warum Heimbewohner keinen Augenarzt aufsuchen.

Das Modell wurde von den Zuhörerinnen und Zuhörern gelobt, die jedoch auch wirtschaftliche Bedenken äußerten. Einig war man sich, dass der Ansatz weiterverfolgt werden müsse. Von der Emde erklärte, dass dazu ein Innovationsantrag gestellt wurde.

Versorgung im ländlichen Raum

Auf die Unterversorgung im ländlichen Raum wies Dr. Christian Wolfram vom Universitätsklinikum Hamburg hin. Er legte dazu Zahlen vor und betonte: „Ohne Zahlen bekommen wir keine Aufmerksamkeit.“ Es müsste mehr Lobbyarbeit und mehr Pilotprojekte wie das zu telemedizinischen Untersuchungen in Pflegeheimen geben. Die Augenheilkunde müsse mobiler werden, doch ohne eine vernünftige Honorierung würde die Entwicklung stocken.

Zum Thema Untersuchungen durch andere Berufsgruppen meinte Wolfram, es sei wichtig, Brücken zu bauen, aber ganz aus der Hand geben dürften Augenärzte und -ärztinnen die Versorgung nicht.

Chancen einer mobilen Reha

Wie mobile Reha im geriatrischen Bereich am Klinikum Coburg bereits funktioniert, zeigte Prof. Dr. Johannes W. Kraft, Chefarzt an diesem Klinikum, auf. Seit Jahren würden Teams verschiedener Berufsgruppen zu den Patientinnen und Patienten fahren und sie dort im Sinne von Rehabilitation mit Physio-, Ergo- und Logotherapie behandeln. Auch pflegerisch, psychologisch und medizinisch würden sie betreut: acht Wochen lang dreimal wöchentlich, davon einmal gegebenenfalls in der Klinik, wo es auch Gruppenangebote gebe. Die mobile Reha findet zu Hause oder in der Kurzzeitpflege statt.

Kraft betrachtet die geriatrische mobile Reha als Plattform, bei der andere Elemente, etwa für das Sehen, hinzukommen könnten. Er erklärte, dass das Gesetz die Möglichkeit vorsieht, mobile Reha anzubieten.

Eine ältere Frau bei einem Sehtest. Sie hält ein Blatt mit einem Text in unterschiedlich großer Schrift vor sich. Eine andere Frau, vermutlich eine Fachkraft, korrigiert die Einstellungen der Untersuchungsbrille.
DBSV/Friese
Podiumsdiskussion auf einer Bühne. In dunklen Sesseln sitzen von links nach rechts: Prof. Dr. Dr. Norbert Schrage, Christiane Möller, Prof. Dr. Kathleen Kunert (mit Mikrofon), Andreas Bethke und Dr. Sabine Lauber-Pohle.
Von links nach rechts: Prof. Dr. Dr. Norbert Schrage, Christiane Möller, Prof. Dr. Kathleen Kunert (mit Mikrofon), Andreas Bethke und Dr. Sabine Lauber-Pohle. · DBSV/Mädje

Lebenspraktische Fähigkeiten im höheren Alter

Dr. Sabine Lauber-Pohle, Erziehungswissenschaftlerin an der Philipps-Universität Marburg, erklärte, dass es für Menschen, die in einem höheren Lebensalter Lebenspraktische Fähigkeiten (LPF) erlernten, andere Unterrichtskonzepte brauche, da die Lernenden sehende Vorerfahrung hätten, sich mit Haushaltsverrichtungen auskennen würden und oft mehr Einschränkungen als eine Sehbehinderung hätten.

Psychosoziale Beratung und Begleitung komme bisher nicht in den Schulungskonzepten vor, habe aber essenzielle Bedeutung, ebenso gehörten Kognitionstraining und Sturzprophylaxe aus ihrer Sicht dazu.

„Wir müssen das Thema Reha noch einmal angehen“, lautete ihr Fazit. Spezielle Rehalehrkräfte für ältere Menschen seien nicht nötig, aber in Fortbildungen müssten die Besonderheiten des Unterrichtens dieser Personen vorkommen.

Ruf nach standardmäßiger Reha nach Sehverlust

Das Thema Rehabilitation nach Sehverlust griff auch Prof. Dr. Dr. Norbert Schrage von der Augenklinik Köln-Merheim auf. Er wies darauf hin, dass es nach wie vor standardmäßig keine Rehabilitationsmaßnahmen nach Sehverlust gibt. „Es muss jedoch eine Standard-Reha geben“, betonte er und gab damit die Meinung der meisten Anwesenden wieder. Um eine Reha nach Sehverlust durchzusetzen, müsse deren Nutzen belegt werden. Auch ambulante Reha-Konzepte müssten entwickelt werden, in die Augenärzte, Fachkräfte und die Selbsthilfe eingebunden würden. Augenpatientinnen und -patienten sollten einen Antrag auf Teilhabe stellen, um Druck auf das System auszuüben.

In einer Diskussionsrunde wurde deutlich, dass es bei einer Reha nach Sehverlust nicht nur um Training in Orientierung und Mobilität sowie Lebenspraktischen Fähigkeiten geht. Eine Reha müsse individuell geplant werden, da Sehbehinderungen sehr unterschiedlich seien.

Prof. Dr. Kathleen Kunert, Chefärztin in der Rehaklinik Masserberg – der einzigen in Deutschland für stationäre ophthalmologische Reha – meinte, es sei ein falsches Verständnis von Kostenträgern und mancher Patienten, dass sich durch eine ophthalmologische Reha das Sehen verbessere. Vielmehr erlernten die Rehabilitanden in Masserberg Kompensationsstrategien, um im Alltag mit ihrer Seheinschränkung klarzukommen.

Als die Idee eines Fachausschusses ins Spiel kam, sagte die Justiziarin des DBSV, Christiane Möller: „Wir müssen praktisch starten.“ Ausschüsse seien begleitend wichtig, doch wenn Angebote geschaffen würden, spreche sich das herum und etabliere sich.

Die Vernetzung aller Akteure betrachteten alle Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmer als sinnvoll, um das Thema „Reha nach Sehverlust“ voranzubringen.

Zu mehr Infos zum Aktionsbündnis "Sehen im Alter"

Livestream Tag 1: 14. Juni 2024 - 4. Fachtagung "Sehen im Alter"

Livestream Tag 2: 15. Juni 2024 - 4. Fachtagung "Sehen im Alter"

Förderer der 4. Fachtagung "Sehen im Alter"

Die 4. Fachtagung „Sehen im Alter“ wurde durch die Aktion Mensch gefördert und zudem unterstützt durch die Novartis Pharma GmbH und die Roche Pharma AG.

Schwerpunktthema: Sehen im Alter

Viele Herausforderungen, um ältere Menschen mit Sehproblemen besser zu versorgen, sind geblieben seit der ersten Fachtagung „Sehen im Alter“ 2014. Zur vierten Fachtagung versammelten sich im Juni in Bonn wieder viele Fachleute. Sie diskutierten über Lösungsansätze, zu denen zum Beispiel telemedizinische Untersuchungen, mobile Beratung und Prävention gehören. Als thematischer Dauerbrenner erwies sich erneut Reha nach Sehverlust.

  • Vernetzung von Fachleuten, Probleme in der Diskussion und gemeinsame Lösungsansätze: Wie die 4. Fachtagung „Sehen im Alter“ „In kleinen Schritten zu großen Zielen“ bewegt.
  • Aktuell verpassen wir viele Chancen“, sagt Prof. Robert Finger in Bezug auf  Früherkennung und Prävention für Augenerkrankungen. Im Interview nennt er Gründe für die schlechte Vorsorge in Deutschland.
  • Was gut läuft und was besser ginge“, wurde in fünf Workshops auf der Fachtagung „Sehen im Alter“ diskutiert.

  • In "Hürden erkannt, noch nicht gebannt" verraten die Ergebnisse einer Umfrage, was Menschen mit Sehbehinderung daran hindert, im vollen Umfang am gesellschaftlichen und politischen Leben teilzunehmen und digitale Angebote zu nutzen.

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