Europa: „Inklusion wird ein Prozess bleiben“
Interview mit Wolfgang Angermann

· Ute Stephanie Mansion

Wolfgang Angermann hat die Geschicke der Europäischen Blindenunion (EBU) in den vergangenen Jahrzehnten maßgeblich mitbestimmt, lange Zeit als deren Präsident. Welche Herausforderungen die Organisation angesichts eines sich verändernden Europas erwarten, und warum Menschen mit Behinderung selbst tätig werden müssen, um Inklusion zu erreichen, erklärt der 76-jährige in Hannover lebende Angermann im Interview.

Wolfgang Angermann hat kurzes graues Haar. Er trägt ein helles Sakko und ein dunkles Hemd und spricht, an einem Tisch sitzend, in ein Mikrofon.
Bild: Photoaid

Herr Angermann, Sie haben die Europäische Blindenunion (EBU) im Jahr 1984 mitgegründet, waren acht Jahre Vorstandsmitglied und von 2011 bis 2019 Präsident. Und bis vor Kurzem noch einmal Interimspräsident, weil ihr Nachfolger Rodolfo Cattani verstorben war. Welche bedeutenden Entwicklungen für blinde und sehbehinderte Menschen haben Sie während Ihrer Amtszeit erlebt?

Die Europäische Blindenunion ist seinerzeit gegründet worden, weil es vorher eine Zersplitterung der internationalen Arbeit gab und man begriffen hatte, dass man für blinde und sehbehinderte Menschen nur dann etwas erreichen kann, wenn man mit einer Stimme spricht. Durch die Gründung der EBU haben wir politische Bedeutung gewonnen.

Die erste Sache, an der wir europaweit beteiligt waren, war die Einführung des Euro. In Amerika sind die Dollarnoten alle gleich groß, sodass blinde und sehbehinderte Menschen ein Problem haben, sie auseinanderzuhalten. Das haben wir in Europa verhindert und auch erreicht, dass die Euro-Münzen gut unterscheidbar sind für blinde und sehbehinderte Menschen.

Die nächste Sache war die Kennzeichnung von Medikamenten und teilweise auch von Kosmetika mit Brailleschrift. Wir haben uns seinerzeit sehr darum bemüht, das auf alle Produkte zu erweitern, die mit Gefahren bei der Anwendung verbunden sein können. Das ist zum Teil gelungen, zum Teil nicht. Das hat damit zu tun, dass die Wirtschaft sich mitunter gegen aus ihrer Sicht zu viele Regulierungen sträubt. Darum mussten wir unsere Lobbyarbeit zunächst darauf konzentrieren, im öffentlichen Bereich Erfolge zu erzielen. Um auch die Wirtschaft einzubinden, haben wir mitgewirkt am European Accessibility Act, in dem es darum geht, die Zugänglichkeit zu Produkten und Dienstleistungen jedweder Art europaweit herzustellen und zu sichern. In Deutschland soll das unter dem Namen Barrierefreiheitsstärkungsgesetz umgesetzt werden.

Einen wesentlichen Punkt haben wir mit der Weltblindenunion bei der Schaffung von besserer Zugänglichkeit zur Literatur erreicht: 2013 trat der Marrakesch-Vertrag in Kraft, der sukzessive von den Ländern ratifiziert wurde.

Welche Herausforderungen erwarten die EBU in den kommenden Jahren?

Immer mehr Staaten neigen dazu, ihre nationalen Belange in den Vordergrund zu stellen statt die gemeinsamen europäischen Belange. Für die Europäische Union ist es dadurch schwierig, mit einer Stimme zu sprechen. Wir wissen noch nicht, wie sich das auf unsere Arbeit auswirken wird. Wir haben in der EBU eine Verbindungskommission geschaffen: Sie soll unsere Belange gegenüber der EU voranbringen. Die entsprechenden politischen Gremien in Brüssel müssen angesprochen und Lobbyarbeit bei den Abgeordneten in Brüssel geleistet werden. Wichtige Lobbyarbeit war zum Beispiel, dass wir bei der Einführung von Elektrofahrzeugen dafür gesorgt haben, dass sie weiterhin zu hören sind. Die EBU muss dafür sorgen, dass diese Arbeit in Brüssel möglichst nah am Puls dessen, was dort geschieht, stattfindet. Deswegen gibt es Pläne, die Geschäftsstelle der EBU von Paris nach Brüssel zu verlegen.

Unklar ist auch, wie sich die Situation in der Ukraine entwickeln wird. Wir haben unser russisches Mitglied zunächst von der Mitgliedschaft suspendiert, das heißt, die Mitgliedschaft wurde unterbrochen, was die satzungsmäßigen Rechte angeht – in der Hoffnung, dass dieser Krieg irgendwann zu einem Ende kommt und wir diesem Mitglied wieder volle Rechte geben können.

Wo verlaufen Konfliktlinien zwischen den Ländern?

Innerhalb der EBU eigentlich nicht, nicht so wie in der EU. Wir müssen jedoch damit rechnen, dass wir bei der EU nicht mehr die gleiche Verhandlungsposition antreffen, die wir bisher hatten. Wenn die EU Schwierigkeiten hat, sich in bestimmten Bereichen auf eine gemeinsame Position zu verständigen, wird es auch für die EBU schwierig, ihre Positionen durchzusetzen. Wir können bisher noch positiv in die Zukunft sehen, aber wir müssen gewärtig sein, dass die politische Entwicklung in Europa auch für uns von Bedeutung werden kann. Innerhalb der EBU selbst ist die Situation eine eher verbindende.

Wir dürfen uns nicht nur um die Belange von EU-Mitgliedsstaaten kümmern, sondern auch um die der Nicht-EU-Mitglieder innerhalb der EBU. Dieser Wunsch wurde auch bei der Generalversammlung im Februar vorgetragen, und das neue Präsidium wird unter anderem die Aufgabe haben zu versuchen, auch Mittel zu generieren, die die Förderung von Nicht-EU-Mitgliedern stärker betonen. Es sind jetzt auch mehr Nicht-EU-Mitglieder im Präsidium, zum Beispiel die Schweiz und Großbritannien.

Welche Ihrer Erfahrungen nach mehr als zwei Jahrzehnten im Präsidium der EBU würden Sie gern an diejenigen weitergeben, die aktuell in der EBU arbeiten – auf Vorstandsebene oder in der Geschäftsstelle?

In meiner Präsidiumsarbeit habe ich gelernt, dass es wichtig ist, immer wieder die Gemeinsamkeiten zu suchen. Diese Bereitschaft sehe ich unter den EBU-Mitgliedern. Ich bin vorsichtig, wenn es darum geht, Erfahrungen weiterzugeben – das klingt so, als wenn man der große Lehrer wäre. Ich habe natürlich Erfahrungen gesammelt und versucht, sie in meiner Arbeit umzusetzen. Es war mir wichtig, immer wieder den Ausgleich zu finden zwischen unterschiedlichen Meinungen, immer wieder dafür zu sorgen, dass die Menschen, mit denen man zu tun hat, das Gefühl haben, gemeinsam zu einem Ergebnis zu kommen. Alle sollen ihre Wünsche und Überzeugungen vortragen und geltend machen können. Niemand soll sich übergangen oder niedergemacht fühlen.

Als Präsident die Moderatorenaufgabe zu gestalten, halte ich für sehr wichtig – das ist es, was ich unter anderem mitgenommen habe.

Wichtig ist auch, immer wieder herauszufinden: Was ist das Wesentliche? Man wird als Präsidiumsmitglied von allen Seiten angesprochen, da werden Wünsche geäußert, und man muss Prioritäten erkennen.

Für Ihre Verdienste wurde Ihnen 2021 der Arne-Husveg-Award verliehen und bei der Generalversammlung der EBU im Februar in Lissabon die EBU-Ehrenmitgliedschaft auf Lebenszeit. Was bedeuten Ihnen diese Ehrungen?

Sie bedeuten mir sehr viel, weil die internationale Arbeit meine gesamte berufliche Arbeit und vor allem mein Engagement für die Blindenselbsthilfe geprägt hat. Diese Arbeit war mir wichtig, und diese Wichtigkeit durch die Auszeichnungen bestätigt zu bekommen, erfüllt mich mit großer Freude und auch ein bisschen mit Stolz.

Die Arne-Husveg-Medaille trägt auf Englisch die Inschrift: „Er hat den Weg zu voller gesellschaftlicher Inklusion gezeigt“. Was glauben Sie, wann wird die volle Inklusion wirklich kommen?

Inklusion ist kein Ziel, Inklusion ist ein Prozess. Das Ziel ist volle Gleichberechtigung, doch daran muss man immer wieder arbeiten. Es gibt leider Menschen, die der Meinung sind, dass nicht alle Menschen gleich sind, sondern dass es jene gibt, die besonders wertvoll sind, und andere, die nicht so wertvoll sind. Ich bin der Meinung, dass alle Menschen gleich wertvoll sind und einen Beitrag dazu leisten, dass wir uns als Menschen entwickeln können, dass wir etwas erreichen können. Es ist an der Gesellschaft, und an der nehmen wir ja teil, Inklusion anzustreben und diesen Prozess immer wieder voranzutreiben.

Wir können nicht hoffen und schon gar nicht erwarten, dass Menschen, die keine oder nicht die Beeinträchtigung haben, die wir als Menschen ohne oder mit schwachem Sehvermögen haben, erkennen, was wir brauchen. Wir sind es, die das sagen müssen. Wir können nicht einfach sagen „Räumt uns mal die Barrieren aus dem Weg“, sondern müssen immer wieder sagen, wie Barrierefreiheit aussehen muss. Wir müssen es vermitteln, damit andere es verstehen. Das ist unsere Aufgabe. Inklusion wird immer ein Prozess bleiben.

Wie werden Sie nun Ihre Freizeit gestalten, wenn Sie ein aufwendiges Ehrenamt weniger haben?

Ich bin vielseitig interessiert, lese viel und gern und informiere mich über alles Mögliche. Ich habe verschiedene Hobbys, zum Beispiel Musik. Ich spiele Gitarre, und habe jetzt mehr Zeit, mich wieder meinem Instrument zu widmen. Ich wandere gern und werde kein Problem haben, meine Zeit zu gestalten.

Schwerpunktthema Europa

Wenn im Juni das Europäische Parlament gewählt wird, blicken sicher auch die neuen Mitglieder des Präsidiums der Europäischen Blindenunion (EBU) gespannt auf die Ergebnisse. Denn das Parlament und andere EU-Gremien müssen überzeugt werden, die Rechte von Menschen mit Behinderung in allen Bereichen zu beachten. Keine leichte Aufgabe, das wissen auch Wolfgang Angermann, ehemaliger Präsident der EBU, und Sabine Ström, frisch ins EBU-Präsidium gewählt.

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