Einsamkeit: „Wie in einem Paralleluniversum“

Oft fühlen sich blinde und sehbehinderte Menschen in einer Menge von Menschen einsamer, als wenn sie allein zu Hause sind. Im Folgenden berichten sie von ihren Erfahrungen.

Wie unter einer Käseglocke

Blindheit ist kein Grund für Einsamkeit, aber ein Verstärker. Der Mensch nimmt am ehesten Kontakt über die Augen auf, und das funktioniert nun mal nicht, wenn man blind ist. Als ich als junge Frau einmal mit einer Freundin aus war, sagte sie irgendwann: „Da sind lauter junge Männer, die versuchen, mit dir zu flirten, und du reagierst nicht.“ Wie auch? Ich war damals stark sehbehindert und habe noch nie in die Augen meines Gegenübers gesehen.

Eine Szene im Abendlicht: Eine Frau in karierter Bluse wird von der untergehenden Sonnne beschienen, die Konturen sind vom rötlichen Licht verwaschen.
Bild: pixabay/goodinteractive

Das Nicht-Sehen-Können verstärkt das Gefühl von Einsamkeit in einer Menge. Ich fühle mich weniger einsam, wenn ich allein zu Hause sitze, als wenn ich unterwegs bin. Hier in München beim Oktoberfest brauche ich zum Beispiel in einem Zelt grundsätzlich jemanden, der mich wieder aus der Masse führt und den ich bitten kann, mich irgendwohin zu bringen, von wo aus ich mich wieder zurechtfinde. Aber man möchte ja die Freunde nicht aus ihrem Spaß reißen. Ich neige dann dazu, gar nicht erst mitzugehen.

„Käseglocke“ nenne ich diese Abgeschnittenheit: Ich stehe hier und höre alle anderen; ab und zu spricht mich auch mal einer an, aber was um mich herum ist, kommt nicht wirklich an mich heran. Und diese Situation ist nicht selbstgewählt.

„Schüchtern, weil ich das Gegenüber nicht lesen kann“

Als blinde Frau ist es auch schwieriger, einen Partner kennenzulernen, außer man ist sehr extravertiert, und das bin ich nicht. Ich fühle mich schüchtern, weil ich mein Gegenüber nicht so lesen kann. Da neige ich zur Vorsicht und lasse es lieber ganz.

Ich bin trotz allem relativ stark und selbstbewusst. Je älter man wird – ich bin jetzt Mitte 50 –, desto eher hat man eine Vorstellung vom eigenen Leben, und entweder der oder die andere passt dazu oder nicht. Als Führhundhalterin komme ich zum Beispiel auf sechs Füßen daher.

Ich glaube, dass es keinen Single gibt, der sich, wenn er oder sie ehrlich ist, nicht einen Partner wünscht. Wenn man älter ist, vielleicht nicht gleich jemanden, mit dem man zusammenwohnt, sondern einen Menschen, von dem man sagen kann: Zu dem gehöre ich, und der gehört zu mir.

Martina Hellriegel, München

Einsam durch stille Zurückweisung

Wenn ich Zeit habe, rufe ich gerne Menschen an. Manchmal haben „alle“ keine Zeit zum Sprechen, dann fühle ich mich einsam.

Auch durch Zurückweisung fühle ich mich einsam: Einmal wollte ich auf einem Basar ein zweites Mal mit einer Frau sprechen und bin in den Raum gegangen, wo sie war. Eine – vermutlich die gesuchte – Frau sieht mich an der Tür, taucht unter einen Tisch und verschwindet. Ich habe sie nicht mehr auf dem Basar gefunden.

Jutta Wyes, Roetgen

Ein reißendes und schmerzhaftes Gefühl

Viele Menschen fühlen sich nach zwei Jahren Pandemie sehr einsam. Menschen mit einer Beeinträchtigung sind besonders davon betroffen. Für mich ist die Distanziertheit der Menschen inzwischen geradezu körperlich spürbar. Kontakte über Zoom oder über welche Plattformen auch immer sind für mich keine Kontakte.

Mal eben losziehen, zu Fuß oder mit dem Fahrrad, ist als blinde Frau nicht einfach, und wo immer ich hinkomme, fühle ich die Kompliziertheit dieser Zeit. Die Menschen sind gestresst, ängstlich, komplett überfordert.

Die Situation anerkennen, wie sie ist

Mein Mann und ich wohnen in einer schönen großen Wohnung am Waldrand, was sich innerhalb der Lockdowns und Ausgangsbeschränkungen als sehr nützlich erwiesen hat. Unsere Familien wohnen Hunderte von Kilometern entfernt, und uns wurde zu Beginn der Pandemie schnell klar, dass wir vollkommen auf uns selbst gestellt sein würden.

Es gab Zeiten, da haben wir über Wochen hinweg, außer Menschen im Linienbus oder in einem kleinen Geschäft, niemanden getroffen. Die immer weniger werdenden Kontakte liefen und laufen über Telefon, Zoom oder Ähnliches. Die Menschen ziehen sich immer mehr auf ihre kleinsten Kreise zurück.

Für die Bewältigung eines schmerzhaften Gefühls ist es wichtig, anzuerkennen, dass die Situation gerade so ist, wie sie ist. Nur so kann Entwicklung entstehen. Einsamkeit ist ein reißendes und sehr schmerzhaftes Gefühl, das weiß ich jetzt.

Heike Herrmann-Hofstetter, Marburg

Die besondere Einsamkeit eines blinden Menschen

Als unsere Kinder noch kleiner waren, haben wir oft Urlaub an der Nord- oder Ostsee gemacht. Wenn wir in eine Ferienwohnung kamen, hieß es oft: Setz dich und lass uns machen. Ich fühlte mich überflüssig und habe oft gedacht, dass alle wahrscheinlich ohne mich einen besseren Urlaub hätten. Als Jammerlappen wollte ich nicht gelten und habe daher nie gesagt, was ich denke  –  ich war einsam innerhalb der eigenen Familie. Ich fühlte mich wie in einem Paralleluniversum. "Du kannst nichts, weißt nichts und brauchst auch nichts, weil du nichts sehen kannst." So fühlte es sich für mich an. Ich gehörte nicht dazu.

Auch auf Feiern und Veranstaltungen, Sitzungen und Besprechungen fühlt man sich als blinder Mensch wie auf einem anderen Planeten. Alle tun Dinge, bei denen man sehen können muss. Man steht immer einsam außen vor. Wenn man Nachbarn auf der Straße trifft, reden sie oft über Dinge, bei denen man nicht mitreden kann. Das letzte Tennisturnier, wie süß die Kinder dies oder jenes gemacht haben, wie schön irgendetwas umgestaltet wurde, was für tolle Landschaften sie im letzten Urlaub gesehen haben, bei welchem Marktstand die Ware am frischesten ausschaut usw. Handybilder werden untereinander gezeigt.

In den letzten Jahren habe ich oft auf mein Recht gepocht, doch bitte auch teilhaben zu dürfen. Manchmal, wenn man möchte oder es möglich ist, kommt man mir entgegen. Die Welt der Sehenden klammert mich aus, bis ihnen mein Protest auffällt und die „arme blinde Frau“ auch mal reinschnuppern darf.

Das hört sich sarkastisch an. Aber es gibt natürlich auch Menschen, für die ich nicht „die Blinde“ bin, sondern Manuela. Inzwischen habe ich viele Menschen kennengelernt, die von sich aus überlegen, wie man mich einbeziehen kann. Und zwar so, dass ich auch etwas davon habe.

Auch meine Familie hat inzwischen begriffen, dass ich nicht abwarten möchte, dass sie ihr Leben leben und ich zuhören darf. Ich brauche dringend Input: etwas riechen, fühlen, befühlen oder was auch immer. Ich möchte erzählt bekommen, was um mich herum geschieht und wie es ausschaut. Leider gibt es sehr schweigsame und phantasielose Kandidaten, die nichts transportieren können.

Viel Energie und Konzentration nötig

Es fällt mir ohne Unterstützung oft schwer, auf andere zuzugehen. Spricht man mich nicht an, lebe ich in einem luftleeren Raum. Als blinder Mensch muss man immer massiv auf sich aufmerksam machen, doch das kann nicht jeder. Schon gar nicht, wenn man späterblindet ist.

Befinde ich mich in einer Theatervorstellung oder dergleichen, muss ich oft nachfragen, warum alle lachen oder klatschen. Mein Mann erklärt das inzwischen auch ohne Aufforderung. Bin ich aber mit „ungeübter“ Begleitung unterwegs, werde ich vergessen.

Was ich besonders hart finde, ist, dass man wahnsinnig viel Energie benötigt, um sich die Umgebung zu erarbeiten. Immer muss man hochkonzentriert sein. Manchmal so sehr, dass man nicht mitbekommt, dass man angesprochen wird.

Einsamkeit aus dem Hinterhalt

Es ist auch ein schlimmes Gefühl, wenn meine Familie oder Freundinnen zu Aktivitäten aufbrechen, bei denen ich nicht mitmachen kann. Oft ist es nicht möglich, sie mit mir zusammen umzusetzen. Dann fühle ich mich unendlich benachteiligt. Ich habe es einfach noch nicht raus, mich auf die Dinge zu beschränken, die machbar sind. Könnte ich sehen, wäre halt viel mehr möglich.

Vieles habe ich mir in den vergangenen acht Jahren erarbeitet, vieles geht besser. Auch meine Einstellung zu vielem hat sich verändert. Doch die besondere Einsamkeit eines blinden Menschen, der zusätzlich noch ein Hörproblem hat, ist nie weg. Sie taucht immer wieder aus dem Hinterhalt auf. Und dann kann sie mich auch schon mal so richtig runterziehen.

Manuela Dolf, Kaarst

Schwerpunktthema Einsamkeit

Ist sie wie Regen, wie Curry oder ein schmerzhaftes, reißendes Gefühl? In unserem Schwerpunktthema tauchen viele Vergleiche auf, um Einsamkeit zu beschreiben. Häufig, aber nicht immer, bedeutet einsam zu sein auch, allein zu sein. Wie sie Einsamkeit erleben und was man ihr entgegensetzen kann, schildern blinde und sehbehinderte Menschen in den folgenden Beiträgen. Gedichte veranschaulichen Einsamkeit auf poetische Weise.

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