Einsamkeit: „Ruf doch mal jemanden an!“
Interview mit Heike Kühner

· Ute Stephanie Mansion

Heike Kühner ist Beauftragte für Blinden- und Sehbehindertenseelsorge der Evangelischen Kirche der Pfalz. Sie gehört zum Organisationsteam einer Fachtagung zum Thema Einsamkeit des Dachverbands der evangelischen Blinden-und Sehbehindertenseelsorge. Im Interview erzählt sie, was sie Menschen sagt, die sich allein oder einsam fühlen. Und warum auch scheinbar abstruse Dinge in so einer Situation helfen können.

Frau Kühner, haben Sie in Ihrer Arbeit gemerkt, dass blinde und sehbehinderte Menschen einsamer sind als vor der Pandemie?

Heike Kühner steht vor einer Wand. Sie hat glattes, nackenlanges, helles Haar und einen Pony. Ihr T-Shirt ist hell, ihre Hose dunkel.
Bild: DBSV/privat

Jein. Es gibt blinde und sehbehinderte Menschen, die schon vorher einsam waren, weil sie nicht so mobil waren. Zum Teil sind es Späterblindete, die sich nie allein getraut haben, mit dem Stock zu laufen. Ich weiß von blinden Menschen, dass sie während Corona mehr Mühe hatten rauszugehen, weil sie den notwendigen Abstand nicht halten können. Deshalb vermute ich, dass es mehr einsame blinde Menschen gibt als vor der Pandemie.

Welche Schwierigkeiten hatten oder haben diese Menschen, Kontakt mit anderen aufzunehmen?

Über das Telefon gibt es natürlich die Möglichkeit, Kontakt aufzunehmen. Das Problem ist, dass sie jemanden brauchen, der mit ihnen auch mal rausgeht, der mit ihnen spazieren geht. Das ist allein oft schwierig. Zum Beispiel, wenn jemand in den Wald möchte. Viele Waldwege sind verzweigt, da ist es für einen blinden Menschen nicht einfach, sich zurechtzufinden. Auch ein Mensch mit Stock braucht eine Orientierungshilfe. Von daher ist es für viele blinde Menschen wichtig, dass jemand sie begleitet.

Ist das Problem der Einsamkeit auf dem Land größer als in der Stadt?

Ich glaube, das Problem ist in der Stadt stärker. Ich kenne Menschen, die auf dem Land leben und die mir bestätigen, dass man dort wesentlich mehr nacheinander schaut als in der Stadt.

„Durch Corona alles noch schwerer“

Welche Menschen rufen bei Ihnen an, um sich seelsorglichen Rat zu holen?

Es sind zum Beispiel Menschen, die auch bei meinem Erzählkreis mitmachen. Den Erzählkreis hatte ich zuerst „Für alle, die allein sind“ genannt. Das war aber zu einsamkeitslastig, weil auch Menschen teilnehmen, die nicht einsam sind, aber einfach Lust haben, mit anderen zu reden. Die Menschen, die anrufen, beklagen sich selten. Es sind zum Teil Menschen, die schon Kontakte haben, die aber auch mal von zu Hause aus mit anderen reden möchten. Manche sagen, dass für sie durch Corona alles noch schwerer geworden ist. Inzwischen melden sich viele wieder bei Freizeiten an, aber wenn es keine Freizeiten gibt, ist das Telefon sehr wichtig.

Was bieten Sie als Beauftragte der Blinden- und Sehbehindertenseelsorge an, damit Menschen ein Stück weit aus ihrer Einsamkeit herausfinden?

Was ich nie vermutet hätte: Der Erzählkreis, den ich gegründet habe und der online stattfindet, ist der Renner. Noch besser läuft der Gesprächskreis, der sich einmal im Monat abends trifft. Da geht es nicht darum, einfach zu erzählen, sondern um ernste Themen. Wir hatten zum Beispiel die Themen "Was macht Corona mit mir? Wo löst es in mir Angst aus?" und "Lebensschätze – suchen, finden, festhalten. Was ist mir wichtig in meinem Leben, woran hänge ich mein Herz?“. Auch über „Freundschaft – wo fängt sie an, wo hört sie auf?“ haben wir gesprochen. Wir haben mit sechs bis zehn Leuten angefangen, jetzt sind wir 17. Das heißt, dass es einen Bedarf nach ernsteren Themen gibt und nicht nur einfach zu plaudern.

Ich biete auch einen Stammtisch an, der sich einmal im Monat in unterschiedlichen Lokalen trifft. Und wir machen Ausflüge, vor Corona drei im Jahr. Ich habe immer versucht, Begleitpersonen zu organisieren, sodass alle mitkonnten. Das hat vielen Auftrieb gegeben  –  es kommen sehr viele, die allein sind. Hausbesuche mache ich auch, und ich bin mit vielen Menschen telefonisch in Kontakt.

„Ich möchte Mut machen“

Können Sie als selbst blinde Frau etwas empfehlen, das vor Einsamkeit schützt oder hilft, wieder in Kontakt mit anderen zu kommen?

Was ich nie verstanden habe, ist, dass die Menschen mir immer wieder sagen, gerade in Corona-Zeiten: Ich habe keinen, mit dem ich reden kann. Ich persönlich habe während der Pandemie so viel mit Leuten geredet wie lange nicht mehr, am Telefon natürlich. Wir müssen lernen, mehr von uns aus Menschen anzusprechen. Ich werfe niemandem vor, nicht selbst etwas zu unternehmen oder immer auf andere zu warten. Trotzdem möchte ich Menschen motivieren und ihnen sagen: Such dir Leute, mit denen du dich ab und zu triffst. Es gibt viele Menschen, die voneinander wissen, dass sie einsam sind, und trotzdem verabreden sie sich nicht. Ich weiß nicht, warum. Aber ich muss auch bedenken, dass es für blinde Menschen schwieriger ist, sich zu verabreden. Wer nicht mobil genug ist, sich allein auf den Weg zu machen, dem würde ich gern unsere Angebote am Telefon nahelegen, jeden Mittwoch der Erzählkreis und der monatliche Gesprächskreis.

Vielleicht könnte es eine neue Aufgabe für mich sein, Menschen, die allein leben, mehr zusammenzubringen. So kann man mehr telefonieren, aber sich vielleicht auch mal ins Taxi setzen, wenn der Weg nicht zu weit und die Fahrt nicht zu teuer ist. Ich möchte Mut machen, sich zu trauen, selbst kreativ zu werden. Beispiel: Ich habe mit einer Freundin gefrühstückt – am Telefon. Wir haben beide viel Spaß gehabt, und das Telefonfrühstück hat uns beiden gutgetan. Ich kann nur jedem raten, ob blind oder sehend: einfach Dinge tun, die völlig abstrus sind. Allein ein Bewusstsein dafür zu bekommen, ist wichtig. Das hilft einem über vieles hinweg, und ich glaube, dass es ein Stück über Einsamkeit hinwegretten kann.

Sie organisieren die Fachtagung zum Thema Einsamkeit des Dachverbands der evangelischen Blinden- und Sehbehindertenseelsorge mit. Was erhoffen Sie sich von der Tagung?

Leider gibt es kein Patentrezept für die Frage „Wie komme ich aus Einsamkeit hinaus?“. Das einzige Patentrezept ist, selbst initiativ zu werden, aber das ist sehr schwer für manche Menschen. Nicht jeder hat die Kraft dazu. Mir hilft dann immer das Gebet. Wenn bei der Tagung Menschen sind, die sich mit dem Thema nicht nur dienstlich beschäftigen, sondern selbst betroffen sind, wünsche ich mir, dass sie nach Hause gehen und sagen: Ich habe etwas mitgenommen. Und ich wünsche mir, dass Menschen in irgendeiner Weise ihren inneren Frieden wiederfinden. Denn Einsamkeit kann einen ziemlich aus dem Gleichgewicht bringen. Es tut Menschen gut, wenn sie so etwas gefunden haben und wenn sie mit jemandem reden können. Ebenso wünsche ich mir für die Fachtagung, dass wir Seelsorgezeiten anbieten können, also Stunden, in denen wir für Gespräche bereit sind – für alle, die Bedarf haben. Das ist manchmal wichtig, denn wenn Menschen an so einer Tagung teilnehmen, können belastende Dinge hochkommen. Dann brauchen sie jemanden, mit dem sie reden können. Es werden Menschen da sein, die das Thema selbst sehr bewegt.

Was werden die, die beruflich mit dem Thema zu tun haben, für ihre Arbeit mitnehmen können?

Sie können für ihre Arbeit mitnehmen, wie man einsame Menschen noch mehr unterstützen kann. Dafür stellen wir Projekte vor, ich zum Beispiel meinen Gesprächskreis. Es werden Projekte gezeigt, wie Menschen aus der Einsamkeit gelöst werden können. Von daher erhoffe ich mir auch für mich neue Ideen, die ich umsetzen kann.

Schwerpunktthema Einsamkeit

Ist sie wie Regen, wie Curry oder ein schmerzhaftes, reißendes Gefühl? In unserem Schwerpunktthema tauchen viele Vergleiche auf, um Einsamkeit zu beschreiben. Häufig, aber nicht immer, bedeutet einsam zu sein auch, allein zu sein. Wie sie Einsamkeit erleben und was man ihr entgegensetzen kann, schildern blinde und sehbehinderte Menschen in den folgenden Beiträgen. Gedichte veranschaulichen Einsamkeit auf poetische Weise.

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