Das Gefühl der Einsamkeit ist kein Phänomen der Moderne. Auch in früherer Zeit fühlten sich Menschen einsam, verlassen, verloren. Dichter und Dichterinnen haben ihre Erfahrungen damit in Worte gefasst, die ausdrücken, was auch heute noch viele Menschen empfinden.
Joachim Ringelnatz: Zwischen meinen Wänden
Ich danke dir: Ich bin ein Kind geblieben,
Ward äußerlich auch meine Schwarte rauh.
Zu viele Sachen weiß ich zu genau
Und lernte mehr und mehr die Wände lieben.
Doch zwischen Wänden, wenn die Fantasie
Ein kleines Glück so glücklich zu erfassen
Imstande ist, dass wir uns sagen: Nie
Uns selber lieben! Nie das andre hassen!
Nur einsam sein! – –
Spricht oft mein Innerstes zu solcher Weisheit: Nein!
Denn all mein Sinnen lauscht, ob fremde Hände
Jetzt etwa klopfen werden an mein einsam Wände,
Und wenn's geschähe, rief es laut: Herein!!!
Joachim Ringelnatz (1883-1934), deutscher Lyriker, Erzähler und Maler.
Hieronymus Lorm: Einsamkeit
Einsamkeit, in deiner Blüte
duftet nicht der Erde Glück,
Nimmer gibst du dem Gemüte,
Was verloren ist, zurück.
Aber unbekannte Schauer
Lockst du aus verborgner Trauer
Durch des Geistes Macht hervor,
Und sie ziehn nach fremden Sternen,
Nach dem Licht der erdenfernen
Ewigkeit das Herz empor.
Einsam spricht des Herzens Pochen,
Was die Lippe nie gesprochen.
Hieronymus Lorm (1821-1902), österreichischer Schriftsteller und Essayist, Erfinder des Lorm-Alphabets.
Sappho: Untergegangen sind ...
Untergegangen sind der Mond
Und die Plejaden. Es ist Mitternacht,
Die Stunden vergehen.
Ich aber schlafe allein.
Sappho (ca. 630-612 v. Chr. bis ca. 570 v.Chr.), griechische Dichterin.
Rainer Maria Rilke: Einsamkeit
Die Einsamkeit ist wie ein Regen.
Sie steigt vom Meer den Abenden entgegen:
von Ebenen, die fern sind und entlegen,
geht sie zum Himmel, der sie immer hat.
Und erst vom Himmel fällt sie auf die Stadt.
Regnet hernieder in den Zwitterstunden,
wenn sich nach Morgen wenden alle Gassen
und wenn die Leiber, welche nichts gefunden,
enttäuscht und traurig von einander lassen;
und wenn die Menschen, die einander hassen,
in einem Bett zusammen schlafen müssen:
dann geht die Einsamkeit mit den Flüssen ...
Rainer Maria Rilke (1875-1926), österreichischer Erzähler und Lyriker.
August Stramm: Dämmerung
Hell weckt Dunkel
Dunkel wehrt Schein
Der Raum zersprengt die Räume
Fetzen ertrinken in Einsamkeit!
Die Seele tanzt
Und
Schwingt und schwingt
Und
Bebt im Raum
Du!
Meine Glieder suchen sich
Meine Glieder kosen sich
Meine Glieder
Schwingen sinken sinken ertrinken
In
Unermesslichkeit
Du!
Hell wehrt Dunkel
Dunkel frisst Schein!
Der Raum ertrinkt in Einsamkeit
Die Seele
Strudelt
Sträubet
Halt!
Meine Glieder
Wirbeln
In
Unermesslichkeit
Du!
Hell ist Schein!
Einsamkeit schlürft!
Unermesslichkeit strömt
Zerreißt
Mich
In
Du!
Du!
August Stramm (1874-1915), deutscher Dichter und Dramatiker.
Maria Luise Weissmann: Der Einsiedler
Er hatte seit Jahren nicht mehr gesät
Verstreut noch reifte ihm das Getreide
Zuletzt ließ er den Hafer ungemäht
Sein Pferd verlor sich auf der Weide.
Er brach eine Zeit noch Beeren vom Ast
Als müsste er einen Hunger stillen
Dann vergaß er auch diese letzte Last
Um seiner tieferen Ruhe willen.
Er saß vor der Hütte bei Tag und Nacht
Die Hütte verfiel in Wind und Regen
Allmählich wuchsen die Gräser sacht
Seinen Füßen und Knien entgegen
Und wuchsen langsam durch seine Hand.
Er ward wie ein Sieb, ohne Außen und Innen.
Gleichmäßig und ganz ohne Widerstand
Konnten die Jahre durch ihn rinnen.
Maria Luise Weissmann (1899-1929), deutsche Lyrikerin.
Anna Ritter: Einsamkeit
Einsamkeit, ernsthafte Frau,
Tratest einst still in mein Zimmer,
Ach, und ich wollte dich nimmer,
Grüßte dich finster und rauh.
Nicktest nur milde dazu,
Ließest dich doch nicht verjagen,
Musste dich eben ertragen,
Sangest mich heimlich zur Ruh.
Sieh, und nun weiß ich genau:
Wolltest du heut von mir scheiden,
Würde ich tief darunter leiden,
Einsamkeit, ernsthafte Frau.
Anna Ritter (1865-1921), deutsche Dichterin und Novellistin.
Schwerpunktthema Einsamkeit
Ist sie wie Regen, wie Curry oder ein schmerzhaftes, reißendes Gefühl? In unserem Schwerpunktthema tauchen viele Vergleiche auf, um Einsamkeit zu beschreiben. Häufig, aber nicht immer, bedeutet einsam zu sein auch, allein zu sein. Wie sie Einsamkeit erleben und was man ihr entgegensetzen kann, schildern blinde und sehbehinderte Menschen in den folgenden Beiträgen. Gedichte veranschaulichen Einsamkeit auf poetische Weise.
- Wie Einsamkeit sich für blinde und sehbehinderte Menschen anfühlt, erzählen sie in Kurzberichten in "Wie in einem Paralleluniversum".
- Rilke, Sappho, Ringelnatz: Gedichte zum Thema Einsamkeit gibt es im Beitrag "Die Einsamkeit ist wie ein Regen".
- Der Beitrag "Mut haben, sich einzuklinken" liefert Tipps und Anregungen, weniger einsam zu sein.
- Im Interview "Ruf doch mal jemanden an!" spricht eine Beauftragte für Blinden- und Sehbehindertenseelsorge über ihre Arbeit.