Digitale Barrierefreiheit: Barrierefreiheit? Irgendwann später!

· Ute Stephanie Mansion

Digitale Barrieren sollte es auf den Internetseiten und in den Apps öffentlicher Stellen eigentlich nicht mehr geben. So sieht es das Behindertengleichstellungsgesetz vor. Doch Alexander Pfingstl und seine Kolleginnen und Kollegen von der zuständigen Überwachungsstelle finden immer wieder welche. Warum es so schwierig ist, Barrierefreiheit in diesem Bereich schneller voranzubringen, erläutert der IT-Experte im Interview.

Herr Pfingstl, das Internet ist bis heute voller digitaler Barrieren. Über welche ärgern Sie als blinder Nutzer sich am meisten?

Alexander Pfingstl lächelt in die Kamera. Er hat kurzes, an den Seiten dichteres Haar und trägt ein Shirt mit kurzem Kragen.
Alexander Pfingstl  ·  Bild: BFIT Bund

Als blinder Nutzer, der mit Screenreader arbeitet, ärgere ich mich am meisten über Barrieren, die mich davon abhalten, Dinge zu tun. Also, wenn ich Funktionen auf Internetseiten gar nicht nutzen kann. Problematisch ist es zum Beispiel, wenn ein Schalter nicht als Schalter ausgegeben ist und man ihn nicht anklicken kann. Das ließe sich relativ gut vermeiden. Zumindest müsste man mit Screenreader arbeiten können, auch wenn es hier und da ein bisschen fummelig ist. Durch meine Erfahrung in der IT bin ich nicht der Durchschnittsnutzer und darum vielleicht etwas stressresistenter und flexibler, aber es gibt immer wieder Webseiten, wo gar nichts geht, und das ist einfach totaler Mist.

Sie arbeiten bei der Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit von Informationstechnik. Was verbirgt sich hinter dem langen Namen, und was ist Ihre Aufgabe?

Der kurze Name ist BFIT. Dahinter verbirgt sich ein Team von mittlerweile sieben Leuten. Wir schreiben alle drei Jahre den Bericht zur Barrierefreiheit Deutschlands für die Europäische Kommission. Dafür fragen wir den Stand der Barrierefreiheit der öffentlichen Stellen in ganz Deutschland ab. Aus unseren Überprüfungen und denen der Bundesländer ergibt sich ein Gesamtbild. Den letzten Bericht gab es im Februar. Wenn wir Prüfergebnisse verschicken, bieten wir den öffentlichen Stellen an, ihnen zu erklären, was genau darin steht. Das wird sehr gut angenommen – dieses Jahr besser als in den Vorjahren, was mich sehr freut.

Dann gibt es bei der BFIT noch den Ausschuss für barrierefreie Informationstechnik, ein Gremium mit Mitgliedern aus Verbänden, Wissenschaft, Forschung, öffentlichen Stellen und der Privatwirtschaft. Der Ausschuss hat die Aufgabe, digitale Barrierefreiheit praktisch zu erklären, zum Beispiel durch Publikationen.

Können Sie ein paar Beispiele für Internetseiten des Bundes nennen?

Wir prüfen immer mal wieder die Seiten der Ministerien. Während der Corona-Zeit war die Website des Robert-Koch-Instituts stark gefragt. Relevant sind auch alle Seiten von Bund und Ländern, auf denen Sie Anträge stellen können, etwa die Internetpräsenz der Deutschen Rentenversicherung Bund.

Oder die Ausweis-App: Sie ist eine zentrale App für Anmeldungen mit dem elektronischen Ausweis. Es ist ein breit gefächertes Spektrum, denn dem Bund gehören 1.000 bis 2.000 Websites und diverse Apps.

Welche digitalen Barrieren finden Sie auf den Internetseiten des Bundes, die für Menschen mit anderen Behinderungen als einer Seheinschränkung relevant sind?

Häufig lässt sich nicht alles mit der Tastatur bedienen. Das betrifft auch Menschen, die eine motorische Beeinträchtigung haben. Wir finden auch immer wieder Seiten, bei denen Links oder Schaltflächen keinen Namen haben. Mit Screenreader ist das in der Regel kein Problem, aber andere erkennen vielleicht nicht, dass dort etwas zum Anklicken ist.

Oft entdecken wir Kontrastfehler. Das kann auch für Leute, die keine Beeinträchtigung haben, problematisch sein. Das Internet wird häufig über mobile Endgeräte genutzt, auch draußen, wo die Lichtverhältnisse anders sind als im Büro. Umso wichtiger ist es, dass die Kontraste gut eingehalten oder übertroffen werden.

Wie weit ist die Barrierefreiheit auf den öffentlichen Seiten des Bundes fortgeschritten?

In bestimmten Bereichen lassen sich Verbesserungen feststellen. Allerdings lässt sich nicht messen, wie stark sich einzelne Barrieren und Fehler auf die Nutzergruppen auswirken. Wir sagen nur: Eine Anforderung wird nicht erfüllt, bewerten aber nicht, welche Auswirkungen das hat, weil das relativ komplex wäre.

Wenn die Tastaturbedienbarkeit fehlt, ist die Auswirkung wahrscheinlich relativ groß, weil das viele Nutzergruppen betrifft. Wenn kein Alternativtext zu einem Bild erstellt wurde, ist die Auswirkung geringer, weil Sie meistens trotzdem in der Lage sein werden, die Website zu nutzen.

Manche öffentlichen Stellen bemühen sich sehr um die Barrierefreiheit ihrer Internetauftritte, für andere hat das Thema aus verschiedenen Gründen keine Priorität.

Öffentliche Stellen sind systembedingt eher träge. Sie arbeiten oft mit externen Dienstleistern zusammen, müssen Projekte ausschreiben oder Rahmenverträge abschließen oder verlängern. Sie können nicht einfach sagen, auf der und der Webseite ändern wir jetzt das und das. Das geht nur bei Fehlern, die von der Online-Redaktion verursacht wurden, wenn etwa ein Alternativtext vergessen wurde. Programmierfehler kann oft nur ein Dienstleister beheben.

Die Prozesse, die eingehalten werden müssen, dauern lange. Darum können wir in unserem EU-Bericht, wo die Fortschritte von einem auf das nächste Jahr benannt werden, nur feststellen, dass sich eher wenig tut.

Welche Maßnahmen müssten ergriffen werden, um das Problem mangelnder digitaler Barrierefreiheit bei öffentlichen Stellen in den Griff zu bekommen?

Wir selbst können die Probleme nicht lösen. Das würden wir gern, weil wir mit viel Herzblut an dem Thema arbeiten. Was es wirklich braucht, ist ein allgemeines Verständnis dafür, dass Barrierefreiheit nichts ist, das man für ein paar wenige macht, sondern dass sie allen etwas bringt.

Momentan glauben viele noch, Barrierefreiheit machten sie für ein paar Behinderte. Deshalb kümmern sie sich irgendwann später darum, wenn die App oder die Website fertig ist. So funktioniert es aber in der Regel nicht. Man muss Barrierefreiheit von vornherein mitdenken. Die Stellen machen sich ja auch Gedanken darüber, dass ihre App sicher ist, die Datenschutz-Grundverordnung und Design-Grundsätze einhält. Genauso müsste man bei der Konzeption sagen: Lass uns auf Barrierefreiheit achten!

Die Menschen müssen verstehen, dass Barrierefreiheit ihnen selbst nutzt, und zwar nicht erst dann, wenn sie älter werden. Sondern zum Beispiel, weil sie dann auch in der Sonne gut in der App oder auf Websites lesen können – weil sie gute Kontraste und ein bisschen größere Symbole haben.

Werden die Mitarbeitenden der Stellen denn nicht zu dem Thema geschult?

Allgemeine Schulungen, bei denen hundert Leute in einem Raum sitzen, nützen nichts. Man muss weg von solchen Massenveranstaltungen und die Leute da einsammeln, wo sie mit ihrem Wissen stehen und wo ihre alltäglichen Probleme sind. Wir haben dieses Jahr Workshops bei einer öffentlichen Stelle gemacht und konnten konkrete Probleme klären. Das hat den Leuten geholfen, Verständnis für das Thema zu entwickeln. Richtig helfen wird man ihnen, wenn man versucht, auf die individuellen Probleme in ihrem Arbeitsalltag einzugehen.

Was können Menschen mit Behinderung tun, wenn sie sich über digitale Barrieren ärgern?

Auf jeden Fall die Barrieren melden! Die Möglichkeiten, Feedback zu geben, Schlichtungsverfahren und Ähnliches sind alle gut, aber sie lösen leider nicht mein akutes Problem. Es ist schwierig, dann zu sagen, ich melde eine Barriere trotzdem. Erst einmal habe ich nichts davon, wenn ich schnell eine Lösung brauche. In der Regel muss man sich dann doch helfen lassen. Das ist frustrierend und stört mich auch selbst.

Aber wenn wir Barrieren deswegen nicht melden, werden sie den Verantwortlichen nicht bewusst. Wenn wir kein Schlichtungs- oder Durchsetzungsverfahren anstreben, wird das Problem nicht sichtbar. Leider kann es Monate dauern, bis sich eine Lösung findet. Bis dahin ist das eigene Problem wahrscheinlich bereits gelöst.

Man kann also nur an den Gemeinwohlgedanken appellieren und sagen: Hey, macht es bitte trotzdem, investiert die Zeit und fragt per E-Mail nach, warum etwas nicht funktioniert. Wenn ihr in einem Schlichtungs- oder Durchsetzungsverfahren seid, investiert die Zeit für ein Gespräch mit den Beteiligten. Das ist wichtig, auch wenn es einem selbst vielleicht zunächst nicht hilft.

Weitere Informationen zum Melden digitaler Barrieren unter:

www.dbsv.org/digitale-barrieren-melden.html

Buch zu barrierefreier Web-Entwicklung

Wer in die barrierefreie Web-Entwicklung einsteigen möchte, muss das Rad nicht neu erfinden. Es gibt Standards der digitalen Barrierefreiheit, die behinderungsübergreifend Anforderungen an die Gestaltung von Webseiten formulieren.

Für den DSBV schreibt Jan Hellbusch aktuell an einem Buch, das sich eingehend mit dem internationalen Standard „Web Content Accessibility Guidelines“, kurz WCAG, in der Version 2.2 befasst. Auf knapp 500 Seiten werden die Anforderungen der WCAG erklärt und mit HTML-, CSS- und Javascript-Beispielen anschaulich gemacht.

Die Online-Publikation soll Ende des Jahres erscheinen und alle unterstützen, die ihre Webseiten barrierefrei machen möchten oder machen müssen.

Schwerpunktthema: Digitale Barrierefreiheit

Wer sehbehindert oder blind und im Internet unterwegs ist, wird früher oder später auf digitale Barrieren stoßen. Sie lauern in Form von Schaltern, die für Screenreader nicht nutzbar sind, oder als Captchas, die Menschen mit Sehbeeinträchtigungen vor grafische und somit unlösbare Aufgaben stellen. In unserem Schwerpunkt erklärt ein Experte, wie der Bund gegen Barrieren öffentlicher Stellen vorgeht, und eine Expertin schildert ihre Probleme als Nutzerin.

  • Barrierefreiheit wird immer wichtiger - die DBSV-Referentin für digitale Barrierefreiheit gibt einen Überblick
  • Eigentlich dürfen öffentliche Stellen nicht mehr sagen: Barrierefreiheit? Irgendwann später! Alexander Pfingstl, IT-Experte bei der Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit von Informationstechnik, prüft, wo es bei Webseiten und Apps öffentlicher Stellen noch hapert.
  • Wenn Apps oder Webseiten für blinde und sehbehinderte Nutzerinnen und Nutzer nicht bedienbar sind, ist das lästig bis gravierend. Die ehemalige Software-Entwicklerin Brigitte Buchsein beschriebt, warum sie trotz frustrierender Erfahrungen optimistisch in die digitale Zukunft blickt.
  • Beratung stärker nachgefragt: Die Bundesfachstelle Barrierefreiheit hat 2024 verstärkt zum Barrierefreiheitsstärkungsgesetz und zur digitalen Barrierefreiheit beraten

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