Sabine Ström ist neugewähltes Mitglied des Präsidiums der Europäischen Blindenunion (EBU). Wie kann es gelingen, mehr blinde und sehbehinderte Menschen, vor allem jüngere, davon zu überzeugen, dass es sich lohnt, sich zu engagieren? Diese Frage beschäftigt die Wahl-Berlinerin, die keine typische Allround-Ehrenamtliche ist. Ihre künftigen Aufgaben und sich selbst stellt sie im folgenden Beitrag vor.
Ich bin in Husum aufgewachsen, habe in Flensburg studiert und bin nach dem Studium nach Berlin gezogen. Hier lebe ich seit 33 Jahren. Dieses Jahr werde ich 62 Jahre alt.
Ich habe lange in der Industrie gearbeitet, als Beraterin und Projektleiterin, zuletzt im IT-Bereich der Lufthansa. Vor elf Jahren bin ich sozusagen zwangsverrentet worden. Eigentlich wollte ich eine Teilerwerbsunfähigkeitsrente haben, weil ich mit meinen vielen Aufgaben überlastet war. Ich hatte damals noch eine pflegebedürftige Mutter, und mein Sohn war erst acht.
Meine Augen haben nicht mehr so mitgemacht, wie ich mir das gewünscht hätte. Ich wollte weniger Stunden arbeiten, wurde jedoch falsch beraten und hatte schließlich die vollständige Berentung im Briefkasten. Da bin ich aus allen Wolken gefallen.
Irgendwann merkte ich: Ich brauche etwas, um wieder ins Leben zurückzufinden, nicht nur allein in der Wohnung zu sitzen und darauf zu warten, dass irgendeiner meiner berufstätigen Bekannten mal Zeit hat. Ich habe mir einen Hund angeschafft und angefangen, ihn mit Hilfe des Vereins „Hunde für Handicaps“ selbst mitauszubilden. Über die Trainerin bin ich in die Angebote des Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenvereins Berlin (ABSV) eingestiegen. Vorher hatte ich keine Kontakte in der Blinden- und Sehbehindertenwelt.
Veränderungen lassen sich nur gemeinsam durchsetzen
Ich habe Retinitis pigmentosa (RP) und einen leichten bis mittleren Hörverlust. Seit 20 Jahren bin ich gesetzlich blind, mein Gesichtsfeld liegt unter fünf Grad. Meine Sehschärfe war früher noch recht gut; inzwischen kann ich noch ein bisschen Farben und Konturen erkennen, und es ist alles etwas neblig. Ich mag die blaue Stunde: Wenn die Sonne noch nicht ganz untergegangen ist, es zwar noch hell, aber nicht mehr blendend ist. Nachts sehe ich Hindernisse nicht, da helfen der Hund oder der Stock, aber ich kann zum Beispiel Ampeln noch erkennen.
Je blinder ich wurde, desto mehr spürte ich die Barrieren. Es gibt in meiner Nähe eine Ampel, bei der immer wieder die Geräuscherkennung kaputtgemacht wird. Ich habe das dreimal gemeldet, aber es passierte nichts. Dann habe ich den ABSV eingeschaltet, und zwei Tage später war das Gerät repariert.
Als Einzelperson kannst du jammern und kritisieren, aber es nützt oft nicht viel. Die Sachen werden schneller umgesetzt, wenn ein großer Verein dahintersteht. Wir haben mehr Einfluss und mehr Möglichkeiten, wenn wir uns als Verein präsentieren und nicht als einzelner blinder Mensch. Das ist eine wichtige Erkenntnis, die bei mir über die Zeit gewachsen ist: Wir können nur etwas durchsetzen, wenn wir uns zusammentun. Wenn wir uns nicht selbst für unsere Belange starkmachen, dann tut es keiner. Das war mein Ansatz, mich mehr ins Vereinsleben einzubringen.
Die Ziele sind definiert, jetzt folgen die Projekte
Im DBSV-Arbeitskreis Führhundhaltende bin ich für Internationales zuständig. So kam es, dass der DBSV mich gefragt hat, ob ich mir vorstellen könnte, für das EBU-Präsidium zu kandidieren. Sicher auch, weil ich sehr gut Englisch spreche. Ich habe mich erst einmal auf der Website der EBU informiert: über den Marrakesch-Vertrag, Braille-Unterstützung, Jugendunterstützung, Ausbildungsförderung und anderes. Im Detail kenne ich die Projekte noch nicht, darum war es für mich wichtig zu wissen, dass ich beim DBSV inhaltliche Unterstützung habe.
In der EBU laufen viele Projekte, und es geht darum, nationenübergreifend Informationen auszutauschen. In anderen Ländern werden Nachteilsausgleiche anders geregelt. Die EBU versucht, Fördergelder von der EU und den Mitgliedsländern für ihre länderübergreifenden Projekte zu bekommen. Die EBU hat 42 Mitgliedsstaaten, die sich in unterschiedlicher Konstellation an den Projekten beteiligen. Es gibt beispielsweise Projekte zu Barrierefreiheit und Braille-Projekte.
Es ist eine Verantwortung, im Präsidium der EBU zu sitzen und all das mitzugestalten. Wir versuchen zusammen, die Geschicke der EBU für die nächsten vier Jahre zu lenken. Wir treffen uns regelmäßig – persönlich oder online. Das Jahr über arbeiten wir in Arbeitskreisen an verschiedenen Inhalten. Wir steuern in erster Linie; die Geschäftsführung der EBU setzt die Beschlüsse zusammen mit den Mitgliedsstaaten um.
Die Ziele für die nächsten vier Jahre sind definiert. Nun müssen Projekte organisiert werden, um die Ziele messbar zu machen. Mein Ziel ist es, dass wir präsenter werden. Viele blinde und sehbehinderte Menschen kennen weder die Europäische noch die Weltblindenunion. Ich finde es schade, dass da so gute Arbeit geleistet wird, die oft kaum wahrgenommen wird. Generell müssen Menschen mit einer Sehbehinderung oder Blindheit präsenter werden.
Präsidiumswahl: Mit Abstand die meisten Stimmen geholt
Als im Februar bei der Generalversammlung der EBU das Präsidium neu gewählt wurde, stand die Präsidentin fest. Dann gibt es das sogenannte Board, das sind acht Mitglieder aus den 42 Mitgliedsstaaten, die den Vorstand mit bilden. Jedes Land hat sechs Stimmen, und wählen kann nur, wer anwesend ist. Es gab 18 Kandidatinnen und Kandidaten für die acht Positionen; sie hatten jeweils zwei Minuten Zeit, um sich vorzustellen. Obwohl ich meinen vorbereiteten Text auf einmal nur noch wie durch Nebel sah, habe ich es ganz gut hingekriegt – und mit Abstand die meisten Stimmen bekommen: 141. Das ist natürlich auch auf die Arbeit des DBSV in der EBU mit dem internationalen Referat zurückzuführen.
Herausforderung: Menschen motivieren, sich zu engagieren
Es ist schwierig, junge Menschen für ehrenamtliches Engagement zu motivieren. Statistisch gesehen erblinden die meisten Menschen erst in höherem Alter. Als ich noch berufstätig war, wusste ich schon, dass ich RP habe, hätte aber keine Kapazitäten gehabt, mich ehrenamtlich zu engagieren. Eine Augenerkrankung kostet viel Energie, das ist wohl einer der Gründe, die es schwer machen für jüngere Menschen, sich zu engagieren.
Ich glaube, dass Menschen zum einen über die gemeinsame Barriere erreicht werden: Menschen treten in einen Verein ein, wenn dessen Vorteile bekannt sind. Das ist für uns die Rechtsberatung durch die rbm und überhaupt gute Beratungsoptionen, denn jeder, der eine Sehbehinderung hat, braucht früher oder später kompetente Beratung. Diese Leistung muss in den Vordergrund rücken.
Zum anderen werden Menschen erreicht über Gespräche und über die sozialen Medien. Natürlich muss überlegt werden, welche Angebote Vereine bereithalten könnten, die für junge blinde Menschen so interessant wären, dass sie sich treffen und sich engagieren wollen. Wozu wären sie bereit, was würde ein Engagement hervorrufen? Auf europäischer Ebene gilt es außerdem, junge Menschen zu finden, die Lust haben etwas zu bewirken.
Ich liebe Hunde und halte den Blindenführhund für das beste Hilfsmittel. Ich bin in einem Ausschuss, der auf europäischer Ebene eine Norm für das Leben und die Arbeit von Assistenzhunden gestaltet. Der Ausschuss hat aber nichts mit der EBU zu tun. Nach der Veröffentlichung kann jeder diese Norm kommentieren und Änderungen bewirken. So haben wir die Möglichkeit, etwas zu erreichen. Wenn Menschen merken, dass sie Chancen haben, etwas zu beeinflussen, kann Engagement wachsen.
Ich bin offen für Vorschläge. Wenn jemand sagt, ich habe eine tolle Idee, einfach bei mir melden.
Wer Sabine Ström Ideen für ihre Arbeit in der EBU schicken möchte, schreibt eine Mail an: international@dbsv.org
Das neue EBU-Präsidium
Ins EBU-Präsidium für die kommenden vier Jahre wurden folgende Personen gewählt:
- Präsidentin: Tytti Matsinen, Finnland
- Erste Vizepräsidentin: Bárbara Martín, Spanien
- Zweiter Vizepräsident: Kevin Kelly, Irland
- Schatzmeister: Roland Studer, Schweiz
- Generalsekretärin: Maria Thorstensson
- Vorstandsmitglieder: Sabine Ström, Deutschland, Jakob Rosin, Estland, Anja Uršič, Slowenien, David Aldwinckle, Großbritannien, Andreas Havsberg, Norwegen, Hubert Perfler, Italien, Sinan Tafaj, Albanien, und Dagmar Filgasová, Tschechien
Schwerpunktthema Europa
Wenn im Juni das Europäische Parlament gewählt wird, blicken sicher auch die neuen Mitglieder des Präsidiums der Europäischen Blindenunion (EBU) gespannt auf die Ergebnisse. Denn das Parlament und andere EU-Gremien müssen überzeugt werden, die Rechte von Menschen mit Behinderung in allen Bereichen zu beachten. Keine leichte Aufgabe, das wissen auch Wolfgang Angermann, ehemaliger Präsident der EBU, und Sabine Ström, frisch ins EBU-Präsidium gewählt.
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- Das "Reisen in Europa wird erleichtert" durch einen Europäischen Behindertenausweis. Wann er kommt und welche Vorteile er mit sich bringt.
- Sabine Ström hat "die Chance, etwas zu bewirken" als neu gewähltes Mitglied im EBU-Präsidium.
- "Inklusion wird ein Prozess bleiben", sagt der ehemalige EBU-Präsident Wolfgang Angermann und blickt zugleich auf zukünftige Chancen und Herausforderungen in Europa.
- Mit einem 40-jährigen Jubiläum, Ehrungen und Neuwahlen lenkt die 12. EBU-Generalversammlung "solidarisch in die europäische Zukunft".