Viele vermissen vieles: Organisationen, die im Bereich Inklusion tätig sind, bemängeln am Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD vor allem, dass er in wichtigen Punkten unkonkret bleibt. „Unverbindliche Absichtserklärungen“ seien das. Mehr Mut bei Gesetzesreformen und vor allem die Verpflichtung der Privat-wirtschaft zu Barrierefreiheit, fordern die kritischen Stimmen.
Paritätischer Gesamtverband
Der Paritätische Gesamtverband hat ein Dokument veröffentlicht, in dem er die Kapitel des Koalitionsvertrags wiedergibt und alle Unterthemen darin bewertet, auch den Abschnitt „Inklusion“.
Deutliche Lücken sieht der Gesamtverband bei der Barrierefreiheit: Aus seiner Sicht müssen auch private Anbieter verpflichtet werden, ihre Angebote barrierefrei bereitzustellen. „Dafür sollte Unterstützung zum Beispiel durch den Ausbau der Bundesfachstelle für Barrierefreiheit zur Verfügung gestellt werden“, lautet der Vorschlag des Gesamtverbands.
Kritisch bewertet er, dass die Koalition nicht mit Selbstvertretungen von Menschen mit Behinderungen und vergleichbaren Akteuren über die Weiterentwicklung des Bundesteilhabegesetzes beraten möchte. Diese Akteure werden im entsprechenden Abschnitt des Koalitionsvertrags jedenfalls nicht genannt.
Zur Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB) heißt es im Koalitionsvertrag, dass die Beratungsstellen weiterentwickelt würden und ihre Finanzierung sichergestellt würde. Dieses Vorhaben begrüßt der Gesamtverband, merkt jedoch an, dass sich die Koalitionspartner nicht darauf verständigt hätten, die Finanzierung der EUTB zu verbessern.
Grundsätzlich stellt der Gesamtverband fest, dass sich aus den Absichtserklärungen keine konkreten Vorhaben ableiten ließen.
Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben
Auch die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) kritisiert „unverbindliche Absichtserklärungen“ im Koalitionsvertrag. Die Geschäftsführerin der ISL, Wiebke Schär, fragt: „Wo bleibt die längst überfällige Verpflichtung privater Anbieter*innen von Waren und Dienstleistungen zur Barrierefreiheit, wo bleiben Initiativen zur barrierefreien Mobilität, Stichwort Bahn?“
Was die ISL nach eigenen Angaben besonders empört, ist die „offensichtliche Ignoranz gegenüber eindeutigen Vorgaben der Vereinten Nationen“. Der UN-Fachausschuss Deutschland habe im Herbst 2023 eindringlich zur Deinstitutionalisierung in den Bereichen Bildung, Arbeit und Wohnen aufgefordert. Im Koalitionsvertrag sei aber das Gegenteil verabredet worden, wenn Gelder der Ausgleichsabgabe wieder zum Bau von Werkstätten für behinderte Menschen und Wohnheimen genutzt werden könnten. „An dieser Stelle ist der Koalitionsvertrag ungewöhnlich konkret“, meint Schär.
Menschen mit Behinderung kämen darüber hinaus im Koalitionsvertrag bei Maßnahmen zum Klimaschutz und bei der Katastrophenvorsorge nicht vor.
Positiv sieht die Geschäftsführerin das Bekenntnis zur Reform des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG), die Förderung einer barrierefreien digitalen Infrastruktur, die Stärkung des Gewaltschutzes, die Sicherung der Finanzierung der Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung, das Bekenntnis zum barrierefreien Wohnungsbau sowie den Erhalt der Antidiskriminierungsstelle des Bundes.
Sozialverband VdK
Der Sozialverband VdK kritisiert, dass Kinder mit Behinderung von der neuen Regierung „völlig vergessen“ werden. „Das reicht nicht, liebe Koalitionäre!“, schreibt VdK-Präsidentin Verena Bentele in einer Stellungnahme. „Wo sind eure Ideen für eine inklusive Bildung, für fest etablierte Ansprechpersonen zur Unterstützung und Beratung von Familien mit behinderten Kindern und für einen Bürokratie-Abbau, damit mehr Familien an Hilfe kommen?“
BAG Selbsthilfe
Die Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Selbsthilfe begrüßt die Ankündigung der Bundesregierung im Koalitionsvertrag, stärker auf Barrierefreiheit im privaten Gewerbe hinwirken zu wollen. Dieses Bekenntnis sei ein wichtiges Signal, weil die Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen nicht an der Eingangsstufe eines Geschäfts oder an digitalen Hürden scheitern dürfe.
Doch Dr. Martin Danner, Bundesgeschäftsführer der BAG Selbsthilfe, sagt auch: „Lediglich auf Veränderungen ,hinzuwirken‘, reicht nicht aus, denn Barrierefreiheit darf nicht vom guten Willen einzelner Unternehmen abhängen. Es braucht eine verbindliche gesetzliche Verpflichtung, die private Anbieter endlich in die Pflicht nimmt – analog zu den Vorgaben im öffentlichen Bereich. Nur so lässt sich echte Inklusion verwirklichen.“
Darüber hinaus fordert die BAG Selbsthilfe die neue Bundesregierung auf, die Reform des Behindertengleichstellungsgesetzes unverzüglich in Angriff zu nehmen. „Diese Reform wurde bereits in der letzten Legislaturperiode angekündigt, aber nicht umgesetzt“, beklagt Danner. „Jetzt ist die Gelegenheit, das Versäumte nachzuholen.“
Gerade in Zeiten geopolitischer Krisen, wirtschaftlicher Unsicherheit und wachsender sozialer Spannungen müsse klar sein: „Ein solidarischer Sozialstaat darf die Belange von Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen nicht hintenanstellen.“
Deutscher Behindertenrat
Das Bekenntnis zu Barrierefreiheit im Koalitionsvertrag begrüßt auch der Deutsche Behindertenrat (DBR), dem auch der DBSV angehört. „Nun sind konkrete gesetzgeberische Schritte dringend erforderlich“, erklärt die Vorsitzende des Sprecherinnenrates des DBR, Hannelore Loskill.
Der Koordinator des DBR-Arbeitsausschusses, Dr. Martin Danner, mahnt eine zügige Umsetzung der im Koalitionsvertrag angesprochenen Reformen des Behindertengleichstellungsgesetzes und des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes an. Wichtig sei es auch, private Anbieter von Waren und Dienstleistungen zum Abbau von Barrieren zu verpflichten.
Schwerpunktthema: Inklusionspolitik
Auch die Privatwirtschaft müsste stärker zu Barrierefreiheit verpflichtet werden. Das ist nur eine der Forderungen von Selbsthilfe-Verbänden und anderen Organisationen an eine Inklusionspolitik, die ihren Namen verdient. Wie wird diese Politik in der neuen Legislaturperiode aussehen? Werden die erhofften Gesetzesreformen kommen? Vertreterinnen und Vertreter aus der Politik und von Organisationen haben verschiedene Meinungen dazu.
- „Wir werden überall genau hinschauen“, verspricht Christiane Möller im Interview zu Möglichkeiten und Schwächen für Inklusion im aktuellen Koalitionsvertrag der Bundesregierung.
- Das planen CDU/CSU und SPD für Inklusion laut Koalitionsvertrag.
- Die Beauftragten für die Belange von Menschen mit Behinderungen von CDU, SPD, Grünen und Linken antworten auf die Frage: "Wie gelingt „volle Teilhabe“?"
- „Das reicht nicht, liebe Koalitionäre!“, finden viele für Inklusion tätige Organisationen und benennen Gutes und Verbesserungswürdiges am aktuellen Koalitionsvertrag.