Brailleschrift lebt! 200 Jahre nach ihrer Erfindung nutzen Menschen weltweit sie im Alltag und in der Kunst. Anlässlich des 200-jährigen Jubiläums zur Erfindung der Brailleschrift sammelt die Europäische Blindenunion zusammen mit dem DBSV 365 Beiträge zum Thema Braille. Jeden Tag wird ein Beitrag im Braille200-Newsletter und auf livingbraille.eu veröffentlicht. Die Geschichten, Spiele, Bilder und Videos mit und über die Punktschrift sind vielfältig – sie kommen von Menschen mit und ohne Seheinschränkung aus ganz Europa. Drei dieser Beiträge aus dem Auftaktmonat Januar werden nachfolgend vorgestellt.
Vom Punkt zum Stock
Erfahrungsbericht von Maria Schüller, Deutschland 33 Jahre, sehend, Reha-Fachkraft für Orientierung und Mobilität / Lebenspraktische Fähigkeiten
Sommersemester 2018. Ich brütete sowohl in der Sommerhitze als auch über meinem Plan für das kommende Wintersemester. Noch hatte ich in meinem Bachelor-Studium der Rehabilitationspädagogik keine feste Fachrichtung gewählt. Ich pickte mir also die Vorlesungen heraus, deren Titel und Inhalte mich ansprechen - und entschied mich unter anderem auch für ein Seminar mit dem einfachen Titel „Braille“.
Am ersten Tag des Kurses lernte ich nicht nur den blinden Referenten Herrn Dr. Zimmermann und die anderen Studierenden kennen, sondern auch die gute Erika Picht. Sie ist eine Braille-Schreibmaschine, die mich für den Rest der Veranstaltung begleiten sollte.
Zunächst bekamen wir Studierenden eine einfache Übersicht des Braille-Schriftsystems in Schwarzschrift auf einer kleinen Postkarte ausgehändigt. Die schwarzen Pünktchen waren zwar taktil hervorgehoben, aber kaum spürbar. Das Ziel des Kurses war es nicht, mit den Fingern zu lesen zu können. Vielmehr ging es darum, dass wir das Schriftsystem erlernten, mit der Maschine schrieben und sehend Texte aufnahmen. So stand es auch in der Kurzbeschreibung im Vorlesungsverzeichnis: „Der praktische Schwerpunkt des Seminars liegt auf dem visuell orientierten Erlernen, Lesen und Schreiben der deutschen Blindenvollschrift.“
Weiterhin erhielten wir „Punktschrift für Anfänger - Wie erlerne ich als Sehender die Blindenvollschrift?“ von Heidi Theiß-Klee und eine Übersicht über wichtige Begriffe der Brailleschrift. In den kommenden Monaten stiegen wir damit Schritt für Schritt in das System der Braille-Vollschrift ein. Um die Lernfortschritte festzuhalten, fanden regelmäßige praktische Übungen statt. Kontrolliert und korrigiert wurde von Herrn Zimmermann direkt im Unterricht. Andererseits gab es auch Aufgaben, die daheim erledigt werden sollen und dementsprechend auch etwas ausführlicher waren. Ich gebe zu, dass ich froh war, keinen Perkins-Brailler nach Hause tragen zu müssen, sondern nur meine kleine Erika in ihrem roten Koffer.
Schließlich war ich so weit, dass ich die Blinden- und Sehbehindertenpädagogik als meine feste Fachrichtung wählte. Der Kurs endete im Februar, und fast nahtlos begann ich im Anschluss mein Studentisches Praktikum am Sehzentrum Berlin, einer Außenstelle des Seh- und Förderzentrums Chemnitz.
Und dort hat man mir wenige Wochen später die entscheidende Frage gestellt:
„Sag mal, hättest du Interesse an der Ausbildung zur Reha-Lehrerin?“
Und so kam ich vom Punkt zum Stock.
Kochen für Alle
Vorstellung eines Kochbuchs für Alle von Cathrin Zahavi
Das vorliegende Kochbuch ist erstellt worden, um allen Menschen unabhängig von ihrer Sehkraft die Möglichkeit zu geben, gemeinsam zu kochen und zu backen. Dazu haben sich sehende und blinde Menschen, sowie jene mit Seheinschränkungen zusammengesetzt und ein Konzept erarbeitet.
Beteiligt waren junge sehende Menschen zwischen 9 und 12 Jahren aus der Gemeinschaftsschule auf dem Campus Rütli, sowie ältere Damen mit fehlender beziehungsweise nachlassender Sehkraft. Das Buch bietet alle denkbaren Varianten der Erschließung des Rezeptes über Schwarzschrift, Braille, Audio und Video an. Letztere lassen sich über einen QR-Code öffnen und abspielen. Das Audio führt den Hörer bzw. die Hörerin Schritt für Schritt durch das Rezept, wobei das Video den gesamten Ablauf auf Englisch darstellt.
Die Idee zu diesem Kochbuch wurde peu à peu geboren. Im Rahmen des Englischunterrichts erstellten die Schülerinnen und Schüler kleine Koch- bzw.
Backvideos, die vorzugsweise aus den Herkunftsländern ihrer Eltern und Großeltern stammten. Im Unterricht selbst lernten sie das dazu benötigte Sprachmaterial. Hinzu kommt, dass verschiedene Frauen mit Seheinschränkungen schon seit längerem unsere Schule durch ihre Lesepatenschaften bereichern. Irgendwann dann veröffentlichte das Berliner Kulturprojekt "Durchstarten" eine Ausschreibung auf der Suche nach Projekten, die es Menschen mit Einschränkungen ermöglicht, auf sehr niederschwellige Art und Weise die Leitung ihrer eigenen Projekte zu übernehmen und erhielten dafür finanzielle Unterstützung.
Damit war die Idee skizziert. Mehrere Arbeitstreffen später wurde aus der Idee ein Plan. Um sehende Menschen und Menschen mit Seheinschränkung stärker zusammenzuführen, haben wir nicht nur dieses Kochbuch entwickelt, sondern mehrere Kochevents durchgeführt, bei denen wir nach den vorliegenden Rezepten gemeinsam gekocht haben.
Die Legende vom "Braille-Licht"
Kurzgeschichte von Liudmyla Tuska, Ingenieurin für thermische Physik aus der Ukraine, wohnhaft in Berlin-Spandau
In den stillen Gassen der alten Stadt, in denen jede Straße Geschichten vergangener Tage zu erzählen schien, lebte ein blinder Junge namens Alex. Seit seiner Kindheit hatte er kein Augenlicht, doch das hinderte ihn nicht daran, von einer Welt voller Abenteuer und Entdeckungen zu träumen. Seine Fantasie war erfüllt von ungesehenen Landschaften aus den Büchern, die er gelesen hatte, vom Flüstern des Windes und dem Duft alter Bücher. Sein bester Freund war ein alter Bibliothekar namens Mr. Gray, der sich stets Zeit nahm, Alex vorzulesen und ihm jedes Mal ein neues Buch in Brailleschrift mit nach Hause zu geben.
Eines Tages erzählte Mr. Gray Alex die Legende von einem uralten Artefakt, das dem Finder das Augenlicht schenken könne. Dieses Artefakt, bekannt als „das Braille-Licht“, wurde in einer Höhle verborgen, und nur derjenige, der mit aufrichtigem Herzen danach suchte, konnte es finden. Der Wind strich wie ein unsichtbarer Erzähler durch die Räume der Bibliothek, als Mr. Gray diese Legende mit gedämpfter Stimme an Alex weitergab.
Voller Entschlossenheit entschied sich Alex, sich gemeinsam mit seinem treuen Hund Basco auf die Suche nach dem legendären Kristall zu machen, um sein Augenlicht zurückzugewinnen. Schon immer hatte er eine besondere Verbundenheit mit Basco gefühlt, dessen Pfoten ihm im unsichtbaren Raum den Weg wiesen und dessen warme Atemzüge ihn an Freundschaft und Zusammenhalt denken ließen. Durch Wälder, in denen das Flüstern des Windes wie uralte Beschwörungen klang, führte Basco ihn sicher hindurch.
Die Jahreszeiten begleiteten die beiden auf ihrer Reise: Sie überquerten murmelnde Frühlingsbäche, erklommen herbstliche Hügel, die in ein Blättermeer getaucht waren, und trotzten den eisigen Prüfungen in winterlichen Bergen. Schließlich erreichten sie eine vergessene Höhle am Fuße eines Gebirges, wo der Wind uralte Melodien sang. Der Zugang war von Felsen versperrt, als ob die Natur das Geheimnis selbst hüten wollte.
Mit Bascos unermüdlichem Gespür überwand Alex die Hindernisse. Tief im Inneren der Höhle warteten jedoch nicht bloß graue Felswände – sie waren mit Zeilen in Brailleschrift überzogen, als hätten längst vergangene Meister ihre Botschaften für jene hinterlassen, die wirklich bereit waren zu sehen. Jeder einzelne Braille-Punkt schien ein Teil der Menschheitsgeschichte zu sein, der vom Nutzen des Kristalls kündete:
– „Wer sein Herz für eine Welt ohne Grenzen des Lichts öffnet, wird das ‚Braille-Licht‘ berühren – und seine Welt wird sich wandeln.“ Alex streckte seine Hand nach dem zuvor unsichtbaren Kristall aus. Als er die kalte, pulsierende Oberfläche berührte, erwachten die Höhlenwände zum Leben: Die Brailleschrift begann im sanften Schimmer des Kristalls zu leuchten und malte in der Luft die Geschichte uralter Völker. Ein Lichtblitz erhellte nicht nur Alex’ physisches Sehvermögen; seine Umgebung wurde in ein sanftes Leuchten getaucht. Alles um ihn herum wirkte nun tiefgründiger und vielschichtiger: Bäume schienen von innen heraus zu glimmen, Wolken zogen wie kunstvolle Gemälde am Himmel dahin, und die Gesichter der Menschen wurden zu Spiegeln ihrer Seelen. Doch das wiedergewonnene Augenlicht bedeutete für Alex auch neue Herausforderungen.
Zuhause stellte er fest, dass er nicht nur sein physisches Sehen zurückerlangt hatte; er sah die Welt in einem völlig neuen Licht. In jedem Tautropfen auf dem Gras entdeckte er nun eine winzige Wunderwelt, in jedem Blick eines Passanten erkannte er ungeschriebene Lebensgeschichten. Seine frühere Blindheit war nur eine andere Form des Wahrnehmens – tiefer, feiner. Im Rascheln der Buchseiten hörte er jetzt die Musik des Universums, in jedem Lächeln eines Freundes erkannte er die Liebe der gesamten Welt. Alex begriff, dass sein wahres Sehen immer in ihm gewesen war, in der Fähigkeit, nicht mit den Augen, sondern mit der Seele zu schauen – genährt durch seine Träume von Abenteuern, seine Freundschaft mit Basco und seine Leidenschaft für Bücher. Zwar konnte er nun die Farben der Welt erkennen, doch er vergaß nie die wichtigste
Erkenntnis: Wahre Kraft liegt nicht allein im äußeren Sehen, sondern darin, durch alle Illusionen hindurch das Wesen der Dinge zu erfassen.
Alex begann, seine Erlebnisse und Erkenntnisse mit anderen zu teilen. In der kleinen Stadtbibliothek lauschten Menschen jeden Alters seinen
Erzählungen: Kinder verfolgten begeistert seine beschreibenden Gesten in der Luft, wenn er von der „Höhle des Braille-Lichts“ sprach, und Erwachsene sogen jedes seiner Worte auf, während ihr Glaube an Wunder neu erweckt wurde. Die Geschichten vom zarten, sanften Schein des Kristalls und von einem grenzenlosen Blick auf die Welt wurden zu Legenden. Alex sprach nicht einfach vom physischen Sehen; er lehrte, hinter dem Alltäglichen die Schönheit zu entdecken, innere Stärke durch das Überwinden von Prüfungen zu entwickeln und die Fähigkeit zu kultivieren, jede Facette des Lebens zu lieben.
Seine Worte klangen wie ein Echo der Höhle:
– „Wirkliches Sehen bedeutet, das Licht in jedem Menschen zu erkennen, so wie ich das sanfte Leuchten des Kristalls gesehen habe. Es geht nicht um die physischen Augen, sondern darum, wie wir das Leben betrachten.“ Bewegt von seinen Geschichten begannen die Menschen, in den kleinsten Dingen Großes zu entdecken: im Lächeln eines Kindes, in den Farben des Sonnenuntergangs oder im sanften Tanz der Blätter im Wind. Alex wurde zum Symbol für Hoffnung und Vertrauen – eine Erinnerung daran, dass jeder Mensch sein eigenes „Braille-Licht“ finden kann. Und obwohl ihm das Augenlicht geschenkt worden war, sah seine Seele die Welt weiterhin mit den Augen des Herzens; nun leuchtete in seinen Augen die alte Weisheit der Braille-Schrift.
Wer selbst Lust bekommen hat, einen kreativen Beitrag zum Braille-Jubiläum einzureichen, findet alle Informationen dazu einen Klick weiter: