Ableismus: Wenn Fähigkeiten alles bestimmen
Interview mit Fabian Rombach

· Ute Stephanie Mansion

Ableismus hat viele Facetten, sagt der Wissenschaftler Fabian Rombach. Der Begriff beschreibt die unterschiedlichen Formen von Abwertung, die Menschen mit Behinderung entgegengebracht werden – doch nicht nur ihnen. Im Interview erläutert Rombach, warum Ableismus alle treffen kann, wo es ableistische Strukturen gibt und warum sich die Wissenschaft dafür interessiert.

Fabian Rombach lächelt in die Kamera.  Er hat kurzes Haar, trägt eine Brille,  einen kurzen Bart und ein dunkles Hemd.
Bild: privat

Herr Rombach, was machen Sie am Lehrstuhl für Disability Studies an der Uni Köln?

Ich bin wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Dr. Anne Waldschmidt und arbeite im Forschungsprojekt „Dispositive von ,Dis/ability‘“, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wird. In diesem Forschungsprojekt untersuchen wir unter anderem Behinderung anhand des Beispiels Erwerbsarbeit. Uns interessieren die Erfahrungen, die Menschen mit Behinderung im Arbeitsleben machen, und wie sich der Umgang mit Behinderung im Kontext von Arbeit seit den Siebzigerjahren verändert hat.

Im Arbeitsleben von Menschen mit Behinderung spielt Ableismus eine Rolle. Können Sie den Begriff kurz erklären?

Ableismus leitet sich aus der englischen Bezeichnung ableism ab. In diesem Begriff steckt das Wort able, und das meint in der deutschen Übersetzung so etwas wie „imstande sein“, „fähig sein“. Und die Endung „ismus“ kennen wir aus anderen Diskriminierungskontexten, zum Beispiel Rassismus und Sexismus. Bei „ismen“ geht es häufig um Handlungs- und Denkmuster. Und wenn wir die beiden Aspekte zusammenführen, haben wir einerseits eine bestimmte Art des Denkens und Handelns und auf der anderen Seite eine Orientierung an Fähigkeiten. Ableismus lässt sich so ganz gut beschreiben: Es geht um eine einseitige Fokussierung auf körperliche und geistige Fähigkeiten von Personen und gleichzeitig auch um die Bewertung oder Verurteilung von Fähigkeiten. Wenn wir das übertragen auf das Beispiel Behinderung, erleben wir häufig eine negative Fähigkeitsorientierung im Umgang mit behinderten Menschen. Also die Haltung „behinderte Menschen können nicht so viel wie andere“, „Behinderung ist ein Defizit oder eine Last“. Das spiegelt wiederum Denkmuster über Behinderung wider, und es beinhaltet Annahmen darüber, was Menschen mit Behinderung tun können oder eben nicht. Ableismus beschreibt die Abwertung von Menschen anhand von Unfähigkeiten.

Fähigkeiten werden zu- oder abgesprochen

Was unterscheidet Ableismus von Diskriminierung und Behindertenfeindlichkeit?

Die Begriffe zeigen unterschiedliche Facetten auf. Diskriminierung beschreibt eine bewusste oder unbewusste Benachteiligung oder Herabwürdigung. Soziologisch könnte man sagen, es sind abwertende Handlungen, die das Ziel haben, anhand von bestimmten Merkmalen Unterscheidungen zu treffen. Mit diesen Unterscheidungen geht eine herabwürdigende Behandlung einher.

Bei Behindertenfeindlichkeit geht es um eine feindselige Haltung gegenüber behinderten Menschen, also offene Gewalt und Hass. Von purer Feindseligkeit kann aber nicht immer die Rede sein: Es gibt zum Beispiel nett gemeinte Tipps – häufig von nicht-behinderten Menschen –, die aber nicht unbedingt hilfreich sind. Oft wird auch betont, wie mutig Menschen mit Behinderung sind, sowohl bei bestimmten Tätigkeiten als auch im täglichen Leben. Das ist keine Feindlichkeit, sondern kommt als Freundlichkeit daher. Wenn wir diese positiven Äußerungen und klare Abwertungen verbinden, hilft uns der Begriff Ableismus weiter. Menschen mit Behinderung werden bestimmte Fähigkeiten zu- oder abgesprochen, und das lässt sich mit diesen Begriffen unterschiedlich darstellen.

Ableismus trifft alle – mal mehr, mal weniger

Kann man sagen, dass Abwertung auf der einen und vermeintliche Aufwertung auf der anderen Seite wesentliche Merkmale von Ableismus sind?

Der Begriff Ableismus beschreibt auf jeden Fall die Komplexität auf eine andere Art und Weise. Es sind zwei Seiten einer Münze. Einerseits die Fokussierung auf körperliche und geistige Fähigkeiten und die damit einhergehenden abwertenden Beurteilungen und zugleich das freundlich daherkommende und manchmal tatsächlich freundlich gemeinte Loben. Hinter dem Loben steckt häufig das moralische Verständnis „Behinderte können ja nichts für ihre Behinderung und sind Opfer ihrer Körper, und damit haben wir Mitgefühl“. Das lässt sich mit „Ableismus“ beschreiben.

Ableismus trifft übrigens alle Menschen mal mehr und mal weniger, auch nicht-behinderte. Etwa, wenn jemand aufgrund seines Äußeren in Verdacht steht, besonders nett zu sein. Auch das ist eine ableistische Beschreibung von körperlichen Aspekten. Blinden Menschen wird zum Beispiel häufig zugeschrieben, dass sie musikalisch seien oder ein Spitzengehör haben. Das ist eine Beschreibung von Fähigkeiten, die reduziert werden auf die körperlichen Bedingungen der blinden Person.

Ableistische Strukturen

Inwiefern bildet sich Ableismus nicht nur im individuellen Verhalten von Menschen ab, sondern auch in Strukturen?

Struktureller Ableismus findet sich insbesondere dort, wo Menschen ähnliche Erfahrungen mit der Abwertung ihrer vermeintlichen Unfähigkeit machen. Nimmt man die einzelnen Erfahrungen zusammen, wird oft eine strukturelle Ebene deutlich. Beim Thema Erwerbsarbeit lassen sich beispielsweise ableistische Strukturen identifizieren: Das kann der fehlende Zugang über Rampen oder Fahrstühle auf dem Weg zum Arbeitsplatz sein oder die Erwartung, dass behinderte Menschen Arbeitstätigkeiten nicht zugetraut werden.

Ableismus hilft uns, bestimmte Strukturen, die benachteiligend sind, klarer zu benennen. Lautsprecheransagen am Bahnsteig zum Beispiel sind für viele etwas Selbstverständliches, für taube Menschen aber ist das eine ableistische Struktur, weil sich die Ansagen als hörbares Element nur an diejenigen richten, die über die Fähigkeit zu hören verfügen. Das Nicht-Hören wird individualisiert und zum Problem der einzelnen tauben Person gemacht. Das kann Forschung noch mal anders betrachten und benennen. Dafür ist der Begriff Ableismus hilfreich.

Können Sie Beispiele für ableistische Strukturen im Arbeitsleben nennen?

Ableistische Strukturen lassen sich insofern identifizieren, dass man auch danach fragen kann, welche Fähigkeiten werden als „normal“ vorausgesetzt. Fähigkeitsanforderungen sind häufig schon in Stellenbeschreibungen ausgeschrieben, und gleichzeitig ist wenig Wissen über alternative Umgangsweisen vorhanden. Fähigkeiten werden schnell abgesprochen oder Menschen mit Behinderung häufig aufgrund ihrer Behinderung nur ein bestimmter Handlungsrahmen zugestanden. Bestimmte Tätigkeiten dürfen ausgeführt werden, andere wiederum nicht, weil die Erwartung ist: Behinderte Menschen können das nicht erfüllen. Das ist natürlich ein absolutes Problem. Diese Fähigkeitsorientierung und dieser Fähigkeitsabgleich werden nicht offen und transparent vollzogen, sondern in den meisten Fällen verschließt sich da die Tür wieder im beruflichen Alltagsleben.

Zuschreibung von Fähigkeiten

Warum interessiert sich die Wissenschaft für Ableismus?

Wir stecken noch ganz am Anfang in der Auseinandersetzung. Für die Wissenschaft ist von besonderem Interesse: Wie entsteht dieses Verständnis von Fähigkeiten, diese Zuschreibung an Einzelpersonen oder an Gruppen, und wie hängen Gesellschaft und dieses Fähigkeitsverständnis mit den Einzelpersonen zusammen? Ableismus beschreibt auch Fähigkeitsideale, also bestimmte Norm-Erwartungen an das, was Menschen mitbringen sollen.

Wenn wir uns wissenschaftlich mit dem Thema auseinandersetzen, geht es auch darum, die Geschichte der alternativen Fähigkeitsverständnisse zu betrachten, denn das Verständnis von Nicht-Können und Können hat sich historisch entwickelt. Für die Disability Studies ist diese Ableismus-Analyse oder Ableismus-Kritik zentral, um ableistische Strukturen zu kritisieren.

Haben Sie eigene Erfahrungen mit Ableismus gemacht?

Ich glaube, jeder Mensch macht ableistische Erfahrungen, leider, und gleichzeitig lässt sich das nicht ganz aus der Welt räumen. Diese Fähigkeitsorientierung begleitet uns im Alltag, gerade in einer Leistungsgesellschaft. Persönlich habe ich die Erfahrung indirekt gemacht, als es um den Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schule ging. Ich saß im Gesprächsraum mit dem Schulleiter und meiner tauben Mutter und habe für meine Mutter gedolmetscht. Der Direktor meinte, dass sie mich ja nicht so fördern könnte, wie das andere Eltern könnten und ich deshalb eher auf die Hauptschule soll als auf eine Realschule oder ein Gymnasium. Da zeigt sich eine indirekte Fähigkeitsorientierung, nämlich die Vorstellung des Rektors, welche Fähigkeiten meine Mutter hat oder nicht hat, um mich schulisch zu fördern.

Wie hat Ihre Mutter reagiert?

Sie war natürlich empört, und es hat ja auch das Gegenteil bewirkt, weil sie schon vorher diejenige war, die mich immer gefördert und mir Raum gegeben hat, mich schulisch und in anderen Kontexten zu entwickeln. Jetzt, mit der akademischen Laufbahn, zeigt sich, dass die Behauptung und die Annahme des Rektors nicht nur ableistisch waren, sondern schlichtweg nicht der Realität entsprachen, wie Menschen ihren Lebenslauf gestalten können.

Schwerpunktthema Ableismus

Ein noch relativ junger Begriff beschreibt ein altes Phänomen: Die Abwertung von Menschen mit Behinderung aufgrund vermeintlich nicht vorhandener Fähigkeiten. Besonders deutlich offenbart sich das im Arbeitsleben. Doch Ableismus kann auch freundlich daherkommen. Unser Schwerpunkt zeigt die unterschiedlichen Facetten von Ableismus auf.

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