Nervenzellen der Netzhaut arbeiten zusammen

Bei bestimmten Seheindrücken sind mehrere Zeilen der Netzhaut gleichzeitig aktiv. Das widerspricht zum Teil einer bisherigen wissenschaftlichen Annahme.

Forschende der Universitätsmedizin Göttingen haben herausgefunden, dass Nervenzellen im Auge natürliche optische Reize aus der Umgebung häufig gemeinsam in Zellgruppen und aufeinander abgestimmt verarbeiten. Die Erkenntnisse könnten dazu beitragen, die Behandlung von Blindheit zu verbessern. Die Ergebnisse sind im renommierten Wissenschaftsmagazin „Nature“ veröffentlicht.

Seit mehr als 50 Jahren bestimmt die sogenannte effiziente Kodierungshypothese das wissenschaftliche Verständnis der Sehprozesse im Auge. Sie besagt, dass es die Aufgabe der Netzhaut ist, die visuellen Informationen möglichst effizient zu verarbeiten, um energetische Ressourcen zu schonen. Es sollten also möglichst wenige Nervenzellen gleichzeitig aktiv sein, wenn es um die Produktion elektrischer Signale zur Weiterleitung der Sehinformationen an das Gehirn geht.

Teamwork bei Kontrast und Bewegung

Prof. Dr. Tim Gollisch (links) und Dr. Dimokratis Karamanlis (rechts) von der Klinik für Augenheilkunde der Universitätsmedizin Göttingen stehen in weißen Arztkitteln in einem weiß ausgestatteten Raum.
Prof. Dr. Tim Gollisch (links) und Dr. Dimokratis Karamanlis (rechts) von der Klinik für Augenheilkunde der Universitätsmedizin Göttingen  ·  Bild: Mohammad Khani

Ein Team um Prof. Dr. Tim Gollisch, Forschungsgruppenleiter an der Uni-Augenklinik Göttingen, hat jetzt herausgefunden, dass die effiziente Kodierungshypothese nicht auf alle Nervenzellen im Auge zutrifft. Für eine Reihe von Zellen konnten die Forschenden in Netzhautpräparaten beobachten, dass häufig ganze Zellgruppen gleichzeitig aktiv sind. Dieses koordinierte Zusammenwirken der Nervenzellen scheint einer effizienten und energiesparenden Informationsübertragung zu widersprechen. Das Team konnte zeigen, dass bestimmte Zellgruppen dann gleichzeitig aktiv werden, wenn entweder kontrastreiche Bilder ins Blickfeld kommen oder Bewegungen in bestimmte Richtungen beobachtet werden.

Potenzial für Therapien

„Diese koordinierte Zusammenarbeit der Nervenzellen könnte dazu dienen, dass das Gehirn besonders relevante optische Signale wie Kontrast und Bewegung von anderen, weniger wichtigen Einflüssen wie Helligkeitsänderungen unterscheiden kann“, erklärt Gollisch. „Für Energieeffizienz scheinen die Zellgruppen hingegen zu sorgen, indem sie besonders kurz auf entsprechende Sinnesreize reagieren. Die Erkenntnisse bieten Potenzial für die Behandlung von Blindheit. Insbesondere betrifft dies die durch Degenerationsprozesse verursachte Erblindung, zum Beispiel wenn die Fotorezeptoren in der Netzhaut absterben.

Die Erkenntnisse der Studie fließen in die Entwicklung neuer Therapieansätze am kürzlich in Göttingen gegründeten Else Kröner Fresenius Zentrum für optogenetische Therapien ein. Dabei sollen bei bestimmten Blindheitsformen lichtempfindliche Proteine in die Nervenzellen der Augen eingeschleust werden, um diese Zellen mit Licht zu aktivieren. Entsprechende Studien mit Patienten und Patientinnen sollen in einigen Jahren in Göttingen beginnen.

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