Mit einer Protestaktion in Berlin forderte ein breites Bündnis von Menschen mit und ohne Behinderungen die Bundesregierung auf, angekündigte Reformen der Gleichbehandlungsgesetze endlich vorzunehmen. Der Rechtsanspruch auf Barrierefreiheit in allen Lebensbereichen ist nach Einschätzung der Organisatoren längst überfällig.
„Barrierefreiheit jetzt! Versprochen ist versprochen!“ Unter diesem Motto hat ein breites Bündnis von Behindertenrechtsorganisationen die Bundesregierung mit einer Protestaktion an ihren Koalitionsvertrag erinnert.
„Wir brauchen Barrierefreiheit, da wo wir leben“, forderte Ottmar Miles-Paul von der Liga Selbstvertretung bei der Aktion am 10. September in Berlin.
Die Regierung aus SPD, Grünen und FDP hatte vor drei Jahren eine Reform des Bundesgleichstellungsgesetzes, des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes und des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes angekündigt. Ziel sei es, Deutschland „in allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens“ barrierefrei zu machen. Da das Vorhaben bisher nicht umgesetzt wurde, drängte das Aktionsbündnis mit seiner Protestaktion darauf, den rechtlichen Rahmen endlich abzustecken. Auch der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) gehört dem Bündnis an.
Rollende Demo durchs Regierungsviertel
Bei der Protestaktion versammelten sich Mitglieder unterschiedlicher Behindertenrechtsorganisationen, der Selbsthilfe und Wohltätigkeitsvereine mit solidarischen Mitbürgerinnen und -bürgern am Brandenburger Tor. Sie forderten, nicht länger von der Nutzung öffentlicher Orte und alltäglicher Dienstleistungen ausgeschlossen zu werden.
Für jeden Menschen gibt es in dieser Gesellschaft unterschiedliche Barrieren. Alexander Ahrens von der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben bekam viel Applaus für seine Forderung nach funktionierenden Aufzügen, Rampen und kooperierendem Bahnpersonal. „Lasst uns doch die Busse und Bahnen nutzen!“, rief er über den Platz in Berlin Mitte.
Der Geschäftsführer des DBSV, Andreas Bethke, forderte Zugang zu lebensnotwendigen und alltäglichen Dienstleistungen. Wenn Supermärkte oder Stromanbieter nicht barrierefrei seien, habe er das Recht auf Unterstützung. Er werde nicht lockerlassen und für diese Rechte kämpfen.
Mitglieder des Vereins Aspies wiesen darauf hin, dass die Bedürfnisse von Menschen aus dem Autismusspektrum oft belächelt würden. Von der Arbeit an reizüberfluteten Orten wie Großraumbüros seien viele von ihnen beispielsweise ausgeschlossen. Eine Gruppe von Menschen mit Hörbehinderung kritisierte die fehlende Dolmetschung in Behörden. Sie regten an, dass mehr hörende Menschen Gebärdensprache lernten. „Barrierefreiheit darf keine Nettigkeit sein“, fasste es Natalie Rosenke von der Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung zusammen.
Um eine rechtliche Grundlage für den Abbau der Barrieren zu haben, sollen das Bundesgleichstellungsgesetz, das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz reformiert werden. Der DBSV forderte schon länger, diese Gesetze zu schärfen und mehr zusammenzudenken. Das würde bedeuten, den Schutz vor Benachteiligung generell zu stärken, Barrierefreiheit in noch mehr Lebensbereichen verpflichtend zu machen und die Rechtsdurchsetzung effektiver zu gestalten. Anbieter von privaten Dienstleistungen müssten außerdem angemessene Vorkehrungen treffen, um ihre Angebote allen Menschen zugänglich zu machen. Wenn das nicht passiere, soll es als diskriminierend angeklagt werden können.
Der Deutsche Behindertenrat forderte in einem Positionspapier zum Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, noch mehr Menschen vor Diskriminierung zu schützen. Auch Angehörige von Menschen mit Behinderungen oder chronisch erkrankte Menschen sollten nicht vom Wohnungsmarkt, von digitalen Angeboten, oder der Gesundheitsversorgung ausgeschlossen werden.
Gesetze für Barrierefreiheit in anderen Ländern selbstverständlich
In anderen Ländern sind Barrierefreiheitsgesetze bereits eine Selbstverständlichkeit. Mit Verweis auf den Americans with Disabilities Act (ADA), der Gesetzesgrundlage für eine möglichst inklusive Gesellschaft in den USA, zog eine aufblasbare Freiheitsstatue im Rollstuhl vom Brandenburger Tor durch Berlin Mitte. Rund 200 Menschen folgten dem rollenden Korso mit Tandems, fahrbaren Mobilitätshilfen und Fahrrädern.
Unterstützt wurde die Protestaktion auch von Raúl Krauthausen, einer der Gründer des Vereins Sozialheld*innen. Er sagte gegenüber der Sichtweisen-Redaktion, dass er „sehr genervt“ darüber sei, wie lange der Gesetzgebungsprozess dauere. Für Barrierefreiheit müsse man jetzt „ordentlich auf den Tisch kacken“, meinte der Inklusionsaktivist.
Stephanie Eppner, die für Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag sitzt, kündigte bei der Protestaktion einen Gesetzesentwurf für das Bundesgleichstellungsgesetz noch für die laufende Woche an. Für weitere umfassendere Reformen sei man jedoch noch in der Verhandlung mit den Koalitionspartnern.
„Man möchte laut schreien. Alleine hier auf dem Weg sind die Poller nicht erkennbar und ich bin beinahe dagegengelaufen. Es tut aber gut, gemeinsam für mehr Barrierefreiheit auf der Straße zu sein“, sagte einer der Teilnehmer der Aktion. Mit der lauten Forderung nach „Barrierefreiheit Jetzt! Versprochen ist Versprochen“ endete die Protestaktion vor dem Bundeskanzleramt.