Startseite / Themen / Menschen / Detail

Von guten und von schlechten Zeiten

· Ute Stephanie Mansion

„Die Kindheit, die keine war“ lautet das erste Kapitel in Jutta Kammanns Autobiografie „Rothaarig und wild entschlossen“. Die Zuhörerinnen und Zuhörer, die der Lesung der Schauspielerin beim Louis Braille Festival lauschten, erfuhren von harten Zeiten, die Jutta Kammann durchmachte, bevor sie Erfolge am Theater und im Fernsehen feierte. Bekannt wurde sie durch ihre Rolle in der Serie „In aller Freundschaft“.

Jutta Kamman hat kinnlanges, welliges rotes Haar. Sie trägt eine orangefarbene Lederjacke über einem gelben Shirt und einer weißen Jeans. Sie sitzt an einem runden Tisch und lächelt den Gästen zu. Links von ihr eine Glasvase mit roten Gladiolen.
Jutta Kamman hat kinnlanges, welliges rotes Haar. Sie trägt eine orangefarbene Lederjacke über einem gelben Shirt und einer weißen Jeans. Sie sitzt an einem runden Tisch und lächelt den Gästen zu. Links von ihr eine Glasvase mit roten Gladiolen.  ·  Bild: DBSV/Reiner Pfisterer

Ein Buch über ihr Leben zu schreiben, wäre Jutta Kammann gar nicht in den Sinn gekommen, hätte nicht ein Verlag sie gefragt, ob sie nicht eine Autobiografie veröffentlichen wollte. Ein Ghostwriter, also jemand, der nach ihren Informationen den Text schreibt, könne das übernehmen. „Ein Ghostwriter – das geht gar nicht“, war die Antwort der Schauspielerin. Lieber hat sie sich selbst ans Werk begeben und sich nur eine Co-Autorin gewünscht, die mehr als sie selbst darüber weiß, wie man ein Buch strukturiert und worauf es beim Schreiben ankommt. Der Wunsch wurde ihr erfüllt, und am Ende stand die Autobiografie „Rothaarig und wild entschlossen“, erschienen 2021 im Kösel Verlag.

Das erzählt die Schauspielerin Jutta Kammann, die nun auch Autorin ist, zu Beginn ihrer Lesung beim Louis Braille Festival in Stuttgart. Rothaarig ist sie noch – oder vielleicht wieder – und wild entschlossen offenkundig auch, wie die obige Anekdote zeigt. Sie trägt ihr welliges Haar nackenlang, hat feine Gesichtszüge, die keinesfalls auf ihre inzwischen 80 Jahre hindeuten, und trägt einen apricotfarbenen Blazer. Und sie hat eines gemeinsam mit vielen der Zuhörerinnen und Zuhörer, nämlich eine Sehbehinderung. Kammann hat Altersabhängige Makuladegeneration (AMD), doch mit dem rechten Auge klappt das Lesen noch recht gut, und so liest sie ebenso selbst, wie sie das Buch selbst geschrieben hat.

Umzüge prägen die Kindheit

Viel Raum gibt die Autorin während der Lesung ihrer Kindheit und Jugend, und das hat nicht unbedingt damit zu tun, dass mit diesen Phasen das Leben nun einmal beginnt. Sie liest nicht nur, sondern erzählt Vieles frei, blickt immer wieder auf und sucht den Kontakt zum Publikum.

Geboren 1944 in Heidenheim war ihre Kindheit geprägt von den Entbehrungen der Kriegs- und vor allem der Nachkriegszeit. Der Vater war Soldat, die Mutter musste arbeiten, und die kleine Jutta lebte überwiegend in Heimen und bei Pflegefamilien. „Meine Mutter konnte es nicht ertragen, wenn ich mich bei einer Pflegefamilie wohlfühlte“, berichtet Kammann. Und so nahm sie das Kind wieder aus der Familie und zog mit ihm um, immer wieder. Immer wieder neue Städte, neue Schulen, neue Mitschülerinnen und Mitschüler, für die sie manchmal nicht nur „die Neue“, sondern auch „die Doofe“ war, wenn sie mit dem Schulstoff aufgrund eines Umzugs noch nicht so weit war wie die anderen.

Fluchtgedanken: Nicht mehr nach Hause zurückkehren

Schreckliches und Tolles habe sie in den Heimen erlebt, sagt Jutta Kammann. Schrecklich ein Unfall, bei dem sie auf eine Eisenstange fiel und ihr zunächst niemand half, toll das Leben in einem katholischen Heim bei fürsorglichen Nonnen.

Wie fortkommen von einer unberechenbaren Mutter, von der die Tochter erst viel später erfuhr, dass sie eine schwerwiegende psychische Krankheit hatte? Jutta Kammann schildert, wie sie auf einer Mittelmeerkreuzfahrt, die sie als Jugendliche machte, den Entschluss fasste, nicht mehr nach Hause zurückzukehren: Der Mutter teilte sie das durch eine Postkarte aus Genua mit. Doch die Karte brauchte lange, um im Briefkasten der Mutter zu landen, und so meldete die Mutter ihre Jutta als vermisst, und Interpol spürte sie auf. Sie hatte Zuflucht gesucht bei ihrer Schwester in Köln und blieb dort auch eine Weile, arbeitete als Mannequin, wie Models damals genannt wurden, und lernte ihren Lebenspartner kennen, den Regisseur Wolfgang Semmelroth. Mit ihm war sie 30 Jahre lang, bis zu seinem Tod, zusammen. Er ermutigte sie, ihren Wunsch, Schauspielerin zu werden, zu verfolgen, und tatsächlich nahm die Schauspielschule Bochum sie auf.

„Oberschwester Ingrid“ bewahrte sie vor der Altersarmut

Jutta Kammann spielte an vielen Theatern, drehte für „Derrick“ und wurde schließlich „Oberschwester Ingrid“ in der ARD-Krankenhaus-Serie „In aller Freundschaft“, die Rolle, die sie bekannt machte. „16 Jahre lang habe ich diese Rolle gespielt“, erklärt Kammann, „und sie hat mich vor der Altersarmut bewahrt.“

Dafür sei sie dankbar, denn sie durfte auch noch weiterdrehen, als die AMD bei ihr diagnostiziert worden war. Das sei nicht selbstverständlich gewesen. Der Beruf der Schauspielerin verlange Opferbereitschaft, doch für sie sei es nach wie vor „der schönste Beruf der Welt“.

„Ich habe viel über mich nachgedacht, während ich an dem Buch geschrieben habe“, erzählt die Autorin. „Über die guten und die schlechten Zeiten, die mich zu der Jutta Kammann gemacht haben, die ich heute bin.“ Eine reflektierte, aber auch humorvolle Jutta Kammann scheint es zu sein, die immer wieder kleine Anekdoten zu berichten weiß, und als ein Handy im Publikum klingelt, dem Angerufenen aufträgt: „Bestellen Sie schöne Grüße von mir!“

Sie will das Leben genießen, wie sie am Schluss ihres Buches und am Ende der Lesung verkündet, und „trotz aller Widrigkeiten das Beste daraus machen“.

Jutta Kammann: Rothaarig und wild entschlossen
In Zusammenarbeit mit Dr. Margit Roth
Kösel Verlag, München 2021

Auch als E-Book und als Hörbuch in verschiedenen Hörbüchereien erhältlich.

Schwerpunktthema Das Louis Braille Festival 2024

Musik, Stimmengewirr, Lachen – schon die Geräuschkulisse spiegelte die Vielfalt der Aktionen, die fröhliche Stimmung und die zahllosen Begegnungen beim Louis Braille Festival (LBF) Anfang Mai in Stuttgart wider. Mehr als 5.000 Besucherinnen und Besucher machten mit bei Workshops, Sport und Spiel, hörten Lesungen und Konzerte, genossen die großen Shows, probierten Dinge aus, lernten etwas, tanzten und knüpften Kontakte. Manche hätten gern länger als drei Tage gefeiert.

Zurück