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„Im Kern war ich ja noch ich“

· Jacqueline Eschmann

Schritt für Schritt auf neuen Wegen: Diese Erfahrung machte Jacqueline Eschmann, nachdem sie durch einen Verkehrsunfall erblindet war. Ängste und Zweifel kamen auf, doch die Studentin hielt an ihren Träumen und Zielen fest. Was die größte Hürde war, schildert sie im folgenden Beitrag. Er wird auch in „Weitersehen“ zu lesen sein – der DBSV-Publikation, die im Oktober erscheint.

Jacqueline Eschmann steht lachend an einer Mauer neben einem Fahrrad. Im Hintergrund befindet sich schmale Häuser aus rotem Backstein und weiter weg, ein kleiner Turm. Die junge Frau trägt einen schwarzen Mantel zu einer weißen Jeans.
Jacqueline Eschmann  ·  Bild: DBSV/privat

Langstock auf Kopfsteinpflaster – für mich eine herausfordernde und holprige Angelegenheit. Es besteht Stolpergefahr, ständig bleibe ich irgendwo hängen, und etwas nervenaufreibend ist es auch. Seit März 2022 geht es mir so mit einigen Dingen in meinem Leben.

Zuvor bin ich entspannt durch die Gassen aus Kopfsteinpflaster geradelt, bis mir diese Möglichkeit durch einen Verkehrsunfall genommen wurde. Von einem auf den anderen Moment wurde mir ein neues Leben und ein neuer Blick auf die Welt geschenkt, denn bei dem Unfall ging vor meinen Augen das Licht aus. Abrupt musste ich auf einen neuen Weg abbiegen und diesen erst einmal Schritt für Schritt erkunden, ohne zu sehen, wohin mich diese führten. Alles war mir fremd – vom Langstock über die Brailleschrift bis hin zu verschiedenen anderen Techniken.

Den Weg oder das Ziel anpassen?

Vor dem Unfall hatte ich das Gefühl, angekommen zu sein. In meinem Studium, einer neuen Stadt, Den Haag, einem anderen Land mit neuen Freundinnen und Freunden. Meine WG fühlte sich wie ein Zuhause an, die neu gefundenen Freundinnen und Freunde wurden langsam zu einer weiteren Familie, und mein Studium machte mir Spaß. Ich war einfach glücklich. Ich wusste, ich bin auf dem richtigen Weg. Deshalb konnte auch dieser einschneidende Unfall meine Gewissheit nicht infrage stellen. Eine Sache war aber von Anfang an klar: Mein Weg würde von jetzt an von ganz anderen Herausforderungen und Schwierigkeiten geprägt sein. Nichts davon war aber unmöglich zu lösen. Nun ist das rückblickend, nach inzwischen zwei Jahren und vielen Erfolgserlebnissen, leicht gesagt. Aber bis hierher musste ich mit einigen Ängsten und Zweifeln kämpfen. Träume ich vielleicht doch zu groß? Woher erhalte ich den Mut, mich meinen Ängsten zu stellen?

Zwei Jahre ist es her, dass mir ein neuer Lebensweg geschenkt wurde. Ein Leben, das nun andere Startbedingungen hatte als zuvor, aber im Kern war ich ja noch ich. Ich hatte immer noch meine Träume, Wünsche, Hoffnungen und im Grunde mich. Daran hatte sich nichts geändert. Weshalb sollte ich auf einmal alle meine Träume und Ziele loslassen aufgrund einer anderen körperlichen Startposition, die ich ohnehin nicht mehr verändern konnte? Mussten sich meine Träume meiner Situation anpassen oder vielleicht einfach nur der Weg, den ich gehe, um sie zu verwirklichen?

Jacqueline Eschmann steht an einer Hafenkante, dahinter befindet sich ein größeres Gewässer; im Hintergrund sind Schiffe und eine Brücke zu sehen. Sie hat langes dunkles Haar, trägt eine dunkle Hose, weiße Sneaker und hält ihren Langstock fest.
Jacqueline Eschmann an einem Hafen.  ·  Bild: DBSV/privat

Emotionale Achterbahnfahrt

Ich habe mich entschieden, an meinen Zielen festzuhalten und mir dafür einen neuen Weg zu bauen, um sie zu erreichen. Das hat immensen Mut und Stärke gefordert und der Weg war holprig. Die größte Hürde, die ich zu bewältigen hatte, war es, wieder Vertrauen zu fassen – Vertrauen in mich und in die Menschen, die mir helfen sollten. Dies lief nicht immer reibungslos. Gerade mein Mobilitätstraining war mit Ängsten verbunden, und so hat es nach einem ersten gescheiterten Versuch eine Weile gebraucht, es noch einmal zu probieren. Der zweite Anlauf mit einer neuen Trainerin knapp ein Jahr später gab mir wieder den Glauben an mich zurück. Nicht nur dabei habe ich gemerkt, wie wichtig es ist, sich mit den richtigen Menschen in diesem Heilungs- und Lernprozess zu umgeben. Egal ob Physiotherapeutinnen und -therapeuten, Mobilitätstrainerin oder Freundinnen, Freunde und Familie: Mein Umfeld hat mich mitgetragen und mich in meinem Entschluss, mir mein Leben zurückzuholen, gestärkt. Sie haben mich auf dieser emotionalen Achterbahnfahrt begleitet, mit all ihren Höhen und Tiefen. Eines Tages realisierte ich dann auch: So extrem meine persönliche emotionale Reise auch manchmal sein konnte, wir erleben das doch alle.

Angst, Glück, Optimismus, Trauer, Freude, Zweifel – schwingen wir nicht alle immer wieder zwischen all diesen Emotionen und vielen weiteren hin und her? Verbindet uns nicht alle das Auf und Ab, jeden Tag aufs Neue? Angepasst an das Auf und Ab meiner Gefühle, passe ich mein Tempo auf meinem Weg an. Ich habe mir anfangs so viele Gedanken darüber gemacht, wie ich auf andere wirke, wenn ich mit dem Langstock unterwegs bin, oder wie schnell ich die weiteren neuen Techniken erlerne. Wenn ich jetzt einmal eine kurze Pause einlegen muss, dann ist es okay. Aber auch, ein bisschen Tempo zuzulegen, wenn ich mich danach fühle.

Der Weg, den ich mir in den letzten zwei Jahren gebaut habe, führt mich nun auch wieder zurück nach Den Haag, auf das Kopfsteinpflaster und zu meinem Studium, auch wenn er ganz anders aussieht als beim ersten Mal. Stück für Stück geht es weiter, mit einigen Stolpersteinen hier und da. Aber ich freue mich darauf, da es mein Weg ist und es in meiner Hand liegt, wohin er mich führen soll. Also, das nächste Etappenziel: Den Haag im Herbst.

Jacqueline Eschmann studiert in Den Haag „International Relations and Organisations“ (Internationale Beziehungen und Organisationen). Geboren und aufgewachsen ist sie in Stuttgart. Sie liebt es, neue Cafés zu erkunden, da die Kaffeekultur eine ihrer größten Leidenschaften ist. Außerdem verbringt sie ihre freie Zeit gern mit Musik, am liebsten Live-Musik, und ihren Hunden.

Thema in „Weitersehen“: Erwachsenwerden mit Seheinschränkung

„Weitersehen“ ist die jährliche Publikation des DBSV. Jede Ausgabe widmet sich einem Thema, das aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet wird. In der aktuellen Ausgabe geht es um das Aufwachsen mit einer Sehbehinderung – von der Kindheit bis zur Eigenständigkeit.

Die Leserinnen und Leser erhalten einen Einblick in die Lebenswelt blinder und sehbehinderter Kinder, Jugendlicher und junger Erwachsener. Was beschäftigt sie? Welche Unterstützung erhalten Familien mit sehbehinderten Kindern? Vor welchen Herausforderungen stehen junge Menschen in der Schule oder im Studium? Was macht ihnen Spaß und Freude? Wie finden sie neue Freunde? Es geht um schulische und berufliche Themen, aber auch um Freundschaften, Hobbys, Freizeit und Sexualität von Menschen mit Behinderungen. Viele Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene berichten von ihren eigenen Erfahrungen.

„Weitersehen: Sichtbar stark – Erwachsenwerden mit Seheinschränkung“ erscheint Anfang Oktober 2024 in Schwarzschrift sowie auf Daisy-CD und kann über die Landesvereine bestellt werden.

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