Ein Pferd, ein Hund, die Arbeit: Helen Vogt schafft es irgendwie, das alles unter einen Hut zu bekommen. Und hat sogar noch Zeit für ein weiteres Hobby, bei dem es rasant zugeht. Manchmal steht sie, auch wegen ihrer Sehbehinderung, vor Herausforderungen. Wichtig ist ihr Vertrauen – in Mensch und Tier.
Ich sehe die Welt durch ein sehr kleines Fenster. Genau genommen durch ein Gesichtsfeld von etwa drei Grad – das entspricht etwa der Größe einer Fünf-Cent-Münze. Mein Sehrest liegt bei rund fünf Prozent. Für viele klingt das nahezu nach Dunkelheit. Für mich ist es mein Alltag – mein Leben.
Ich bin Helen Vogt, 33 Jahre alt, und komme aus Stuttgart. Seit meiner Geburt bin ich durch die Netzhauterkrankung Lebersche tapetoretinale Dystrophie hochgradig sehbehindert, habe nie mehr als zehn Prozent gesehen und bin zudem sehr lichtempfindlich. Ich habe nie anders gesehen, also fehlt mir nichts. Ich nehme in der Entfernung Licht, Kontraste und grobe Umrisse wahr, in der Nähe auch Farben, Bewegungen und deutlichere Umrisse.
Ich habe Berufspädagogik und Betriebswirtschaftslehre in Stuttgart studiert und arbeite als Personalreferentin in einem Unternehmen. Alle Unterlagen kann ich mit den Windows-Bedienungshilfen und mit der Vergrößerungssoftware ZoomText lesen. Auch die Sprachausgabe ist hilfreich, vor allem zur Bedienung des Handys.
Dino: Kleiner Star im Büro
In meinem Alltag bin ich nie allein unterwegs: Mein treuester Begleiter heißt Dino. Er ist mein Blindenführhund, ein fünfjähriger ruhiger Labrador-Golden-Retriever-Mischling mit wachem Blick und sanftem Gemüt. Dino ist seit über drei Jahren an meiner Seite und mittlerweile so bekannt in unserer Umgebung und in meinem Unternehmen, dass er fast schon zu einem kleinen Star geworden ist. Fast jeder kennt ihn, jeder freut sich, wenn er durch das Büro stromert, und er ist auf Veranstaltungen unseres Unternehmens ein beliebtes Fotomotiv. Durch den offenen Umgang mit mir, mit meiner Sehbehinderung und mit Dino fühle ich mich in meinem Unternehmen sehr wohl. Ich habe das Gefühl, dass Dino eine echte Bereicherung ist, nicht nur für mich, sondern für das ganze Team.
Dino navigiert mich nämlich nicht nur sicher durch den Alltag, sondern macht meine Sehbehinderung für andere viel greifbarer. Im Vergleich zu einem Langstock, der zwar hilfreich ist, aber oft eine gewisse Distanz zwischen mir und anderen aufbaut, zieht mein Hund viel mehr Aufmerksamkeit auf sich. Menschen bemerken ihn, kommen auf mich zu und stellen Fragen. Diese Momente bieten mir die Möglichkeit, meine Sehbehinderung auf eine viel nahbarere Weise zu erklären.
Dino bringt mich jeden Tag zuverlässig zur Arbeit, zum Einkaufen oder auch zu Janita. Doch wer ist Janita? Seit meinem fünften Lebensjahr habe ich eine große Leidenschaft: Pferde. Pferde waren für mich schon immer Freiheit, Kraft und vor allem Vertrauen – und ein Ort, an dem meine Sehbehinderung keine große Rolle spielt. Denn „das Pferd hat ja auch Augen“, wie mein erster Reitlehrer sagte. Vor einem Jahr ist Janita in mein Leben getreten: eine bildschöne elfjährige Schimmelstute, die ich gekauft habe. Sie ist sehr zutraulich und hat eine große Ausstrahlung. Mit Janita bin ich sowohl im Dressurviereck unterwegs als auch in Begleitung im Gelände.
Janita erkennt Barrieren
Natürlich gibt es im Reitsport auch herausfordernde Momente. Es fällt mir zum Beispiel schwer, auf unserem Sandplatz zu reiten. Er hat keinen Zaun, sondern nur eine niedrige Steinumrandung. Oft kann ich nicht abschätzen, wie weit Janita von der Umrandung entfernt ist. Doch Janita passt gut auf und wendet ab, bevor sie auf die Umrandung läuft. Dasselbe macht sie, wenn ich sie in der Halle zu nahe auf Hindernisse oder andere Reiter zusteuere. Ich nenne das „intelligente Befehlsverweigerung“ – wie auch beim Blindenführhund. Mein Reitlehrer hat Verständnis dafür, dass die Hufschlagfiguren nicht immer perfekt geritten sind. Wir arbeiten gemeinsam an der Präzision, aber vor allem an der Kommunikation zwischen Janita und mir. Das ist es, was für mich zählt.
Nach einem Jahr sind auch Janita und ich ein gutes Team geworden – wie Dino und ich.
Neben den Tieren gibt es noch eine weitere Leidenschaft, die mich in Bewegung hält: das Rennrad-Tandem. Mein Lebenspartner und ich fahren oft zusammen – er vorne, ich hinten. Das Tandemfahren ist für mich eine weitere Möglichkeit, die Welt zu erleben – aber bei teils 80 Stundenkilometern in der Abfahrt geht auch hier nichts ohne gegenseitiges Vertrauen.
Der Spagat zwischen Vollzeit-Berufstätigkeit, Pferd, Hund und Privatleben ist zugegebenermaßen nicht immer leicht, aber mit guter Planung und Priorisierung funktioniert er meist gut. Durch eine gute Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel sowohl zu meiner Arbeit als auch zum Stall komme ich überall allein mit Dino hin. Natürlich gibt es auch Herausforderungen: Ausfallende Züge, falsche Ansagen am Bahnsteig oder Baustellen erschweren mir diese Wege.
Tage voller Termine
An Grenzen stoße ich häufig an Tagen, an denen mehrere Termine zusammenkommen – etwa, wenn ich zur Arbeit fahre, zum Stall muss, einkaufen will und abends noch mit Freunden verabredet bin. Auf die Pünktlichkeit von Bus und Bahn kann ich mich an solchen Tagen leider nicht immer verlassen.
Ich sehe wenig – aber ich sehe. Und mit Dino an meiner Seite, mit Janita unter dem Sattel und mit dem Fahrtwind beim Rennradfahren im Gesicht, sehe ich vielleicht sogar ein bisschen mehr als manch anderer.
Helen Vogt (33) lebt in Stuttgart.