„Wieso machst du das? Da hast du doch eh nichts von!“ – „Wie willst du da mitreden? Du siehst das doch gar nicht!“ Solche verwunderten Fragen werden mir immer wieder gestellt, wenn ich als von Geburt an vollblinder Mensch über mein Lieblingshobby, die Astronomie, spreche. Nachdem ich meinen Vortrag oder mein Seminar abgehalten habe, wendet sich das Blatt aber meist, und die Zweifler werden zu den größten Eiferern.
Seit mehr als 30 Jahren befasse ich mich mit dem Weltraum. Beruflich ist es seit 23 Jahren meine Aufgabe als diplomierter Informatiker, für die Studierenden mit Seheinschränkung der Karlsruher Hochschulen Lösungen zu finden, damit sie ein Studium im naturwissenschaftlich-technischen Umfeld absolvieren können. Es ist mir eine große Freude und ein Anliegen, besonders die Astronomie für Menschen mit Seheinschränkung zugänglich zu machen.
Im Schatten der Enterprise
Meine Begeisterung für Wissenschaft und Technik war es, die mich zur Astronomie brachte. Wie alle Kinder, die in den Sechziger- und Siebzigerjahren geboren wurden, wuchs auch ich ganz selbstverständlich im Schatten von Captain Kirk und seinem Raumschiff Enterprise auf. Star Wars, Raumpatrouille Orion und viele andere Filme und Serien beeindruckten mich sehr. Stets mochte ich Handlungen mit viel technischem Bezug. Außerdem faszinierten mich die futuristischen Geräusche.
Die Sterne höre ich nicht mit bloßen Ohren und fühle auch den Vollmond nicht. Hätte ich keinen Kalender, wüsste ich gar nicht, wann Vollmond ist. Und trotzdem ist die Astronomie eines der inklusivsten Hobbys, das ich kenne. Denn: Die Astronomie verzweigt sich in derart viele Disziplinen, dass sie sich hervorragend gemeinsam mit Sehenden oder mit Menschen mit anderen Einschränkungen betreiben lässt. Seit vielen Jahren leite ich regelmäßig eine Freizeit des Evangelischen Blinden- und Sehbehindertendienstes Baden, die sich in erster Linie an junge Erwachsene richtet. Ich wähle dafür Themen aus, die Religion, Philosophie und Naturwissenschaften miteinander verbinden. Viele dieser Themen streifen die Astronomie, denn beispielsweise die Sonne, „der Stern, von dem wir leben“, geht uns alle an.
Sie sendet ein unglaublich spannendes „Radioprogramm“, ein Rauschen, dessen Intensität und Lautstärke sich verändert, je nachdem, was auf dem Stern gerade vor sich geht. Der Jupiter hingegen sendet ein aufgeregtes Knattern und Tacken aus. Das Weltall ist also kein Ort der Stille, wie man vielleicht denken könnte, sondern bietet unzählige weitere, nicht-visuelle Facetten. Gibt man in einer Internet-Suchmaschine „Sound Solar Wind“ oder „Bowshock Jupiter“ oder „Pulsar Sounds“ ein, dann kommt man sehr rasch zu verschiedenen „Radioprogrammen“ des Weltalls.
Steinplaneten als Plastikmodelle
Abends den Himmel nicht betrachten zu können, bedeutet für mich keine Einbuße. Zum einen habe ich taktile Materialien entwickelt, die mir eine Vorstellung des Sternenhimmels mit seinen wichtigsten Sternbildern geben. Mir stehen zum Beispiel alle Steinplaneten (Merkur, Venus, Erde, Mars und Mond) als Plastikmodelle aus dem 3-D-Drucker zur Verfügung. Sie haben einen Durchmesser von etwa 15 Zentimetern, damit ich sie noch transportieren kann. Auch der Komet 67P wurde so anhand von Stereobildern der Europäischen Weltraumorganisation ESA erstellt.
Des Weiteren besitze ich Hefte mit taktilen Grafiken von Sonnen- und Mondfinsternissen, Sternbildern und vielem mehr. Oft kommt auch ein Legomodell der Mondrakete, des Space-Shuttle und der Raumstation ISS zum Einsatz, vor allem bei Vorträgen für Kinder.
Zum anderen ist es für mich ein Hochgenuss zu erleben, wie sich die medial überreizte Welt der jungen Menschen entschleunigt, wenn wir bei einer Freizeit abends gemeinsam auf einer Wiese liegen. Ganz leise und ergriffen beginnen die Teilnehmenden plötzlich, miteinander über das zu sprechen, was sie am Himmel sehen. Ich steuere zu den Sternbildern passende Geschichten aus der griechischen Mythologie oder andere Anekdoten bei, die ich frei erzähle oder im Dunkeln aus meinen Braille-Dokumenten vorlese.
Die Materialien, die ich austeile, sind taktil und gleichzeitig farbig gestaltet. So können die sehenden Teilnehmerinnen und Teilnehmer über ihre visuelle Wahrnehmung hinausgehen, und wir können uns darüber austauschen. Den technisch Interessierten zeige ich Astronomie-Apps auf meinem Smartphone. Das Gerät ist der perfekte Eisbrecher, weil es die jungen Menschen fasziniert, wie ich das Touch-Handy ohne Augen bedienen kann.
Teleskop statt „Sagaland“
Nicht zuletzt bin ich verrückt genug, um ein Teleskop und ein Mikroskop zu besitzen. Ich kam zu beidem durch meine Nichten und Neffen, die heute erwachsen sind und deren Kinder mittlerweile hineinblicken, wenn sie mich besuchen. Es war frustrierend, wie viele Spiele wir nicht gemeinsam spielen konnten, weil alles so visuell ist. Spiele wie „Mau-Mau“, „Mühle“ und „Mensch ärgere dich nicht!“ gingen noch, aber „Siedler“ oder „Sagaland“ funktionierten überhaupt nicht. Aus diesem Grund suchte ich ein Hobby für uns alle.
Bald erwies sich der Blick durch mein Mikroskop oder des Nachts durch mein Teleskop als die erfüllendste Beschäftigung für meine Nichten und Neffen. Zwar habe ich nicht mit der Astronomie begonnen, um eine Beschäftigung für die Kinder zu finden, habe aber durch sie erkannt, wie mächtig die Astronomie im Erlangen einer ganzheitlichen Weltsicht ist und wie viel Potenzial sie dem inklusiven Miteinander bietet. In der Gesellschaft muss sich in dieser Hinsicht noch einiges ändern.
Oft werde ich gefragt, ob ich die Bücher des Physikers Stephen Hawking kenne. Jedoch nicht etwa wegen deren Inhalt, sondern weil er – zwar völlig anders als ich – auch behindert war. Damit wird einer der größten Physiker und Astronomen des letzten Jahrhunderts über seine Behinderung definiert. Dabei war schon Johannes Kepler, der größte Astronom des letzten Jahrtausends, in Folge einer Pockenerkrankung stark seheingeschränkt. Hätte er nicht seinen Astronomie-Kollegen Tycho Brahe als präzisen Beobachter an seiner Seite gehabt, ist es fraglich, ob er zu seinen bahnbrechenden Keplerschen Gesetzen gefunden hätte, die bis heute für die Weltraumforschung grundlegend sind.
Mit meiner Mission der „Inklusion am Himmel“ konnte ich sogar den Vorstand der Astronomischen Gesellschaft, eine der ältesten astronomischen Vereinigungen Europas, begeistern. Es ist nicht einfach, dort ohne Kontakte Mitglied zu werden, aber mein Engagement für die Astronomie-Freizeiten hat überzeugt und seit Mai 2013 bin ich das erste und einzige blinde Mitglied.
Gerhard Jaworek (54) lebt in Rheinstetten bei Karlsruhe.
Sein Buch „Blind zu den Sternen: Mein Weg als Astronom“ ist 2015 als Taschenbuch im Aquensis-Verlag erschienen und noch als Kindle-E-Book erhältlich. Aufgelesen wurde es von der Hörbücherei Marburg.
In Jaworeks Blog „Blindnerd – Wissenschaft und Technik blind erleben“ geht es um Themen rund um Astronomie, Wissenschaft und Technik.