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Der Leser und der Sammler

· Christian Spremberg

Christian Sprembergs Leidenschaft gehört dem Radio, Büchern, der Musik und seiner riesigen Schallplattensammlung. Wie er für eine Zeitlang zum Theater kam und um die Welt reiste, erzählt er im folgenden Bericht. Und auch, wie schwierig es für ihn als blinden Menschen war, beruflich im Medium Radio Fuß zu fassen. Inzwischen hat er eine Nische gefunden, in der er seine Passion fürs Radio und für Musik vereinen kann.

Christian Spremberg halb von der Seite fotografiert. Er liest einen Text in Brailleschrift vor. Er hat graues Haar und trägt ein Sweatshirt.
Christian Spremberg auf der Bühne der Samstagabendshow beim Louis Braille Festival 2024  ·  Bild: DBSV/Reiner Pfisterer

Ich bin seit meiner Geburt vor nunmehr fast 60 Jahren vollblind. Geboren bin ich in Hamburg, aber da mein Vater beruflich bei der Bundeswehr tätig war, sind wir alle paar Jahre umgezogen, sodass ich im Odenwald und in Darmstadt, in Delmenhorst bei Bremen und später längere Zeit in Marburg lebte. Seit 14 Jahren lebe ich nun in Berlin-Wedding. Ich fühle mich hier ganz gut aufgehoben, In der Großstadt ist es zwar oftmals viel lauter als im Dorf, aber dafür hat man alles, was man für den täglichen Bedarf benötigt, in erreichbarer Nähe, zumal man hier auch ein gut ausgebautes öffentliches Nahverkehrsnetz hat.

Schon als Kind wollte ich als Sprecher zum Radio. Ich habe früh begonnen, am Mikrofon zu sprechen und Radiosendungen, meistens solche mit Musikanteil, zu simulieren und auf Kassetten aufzunehmen. Als es ins Berufsleben gehen sollte, habe ich mich immer wieder bei den paar Sendern, die es damals gab, beworben und auch sonst versucht, einen Fuß in die Tür zu bekommen. 1985 habe ich ein Studium begonnen, es aber nach 14 Semestern abgebrochen und mich langsam damit abgefunden, dass ich als blinder Bewerber keine Chancen beim deutschen Radio haben würde.

Dann aber gab es eine Chance bei der damaligen „Stiftung Blindenanstalt Frankfurt am Main“, die versuchte, blinde und hochgradig sehbehinderte Menschen in neue Berufsfelder einzugliedern. So kam ich 1995 nach Berlin zu Spreeradio 105,5, einem kommerziellen Radiosender. Dort habe ich den Radiojournalismus, wie er heute vor allem im Privatrundfunk praktiziert wird, gelernt, das heißt, Nachrichten und Sportmeldungen redigiert, Interviews geführt, öfter auch mal Übersetzungen und andere Fremdtexte gesprochen. Leider konnte ich mich dort nicht mit Musik befassen, weil die gesamte Musik, so wie es bis heute üblich ist, von sogenannten Medienberatern in ein bestimmtes Format eingeordnet wird, das wir nicht ändern durften. 2002 gab es eine Insolvenz, und mir wurde betriebsbedingt gekündigt. Ich habe mich dann nicht mehr dafür eingesetzt, beim Radio zu bleiben.

Nach einem Jahr Arbeitslosigkeit nahm ich zunächst mit meiner damaligen Frau einen Job als Guide in einem neu gegründeten Dunkelrestaurant in Berlin an, habe Gäste geführt und ihnen Essen serviert. In dem Restaurant traten auch Musiker auf, und es gab Lesungen. Hier habe ich mich dann öffentlich als Vorleser profilieren können – mit Texten zu unterschiedlichen Themen.

Rimini-Protokoll

2006 bekam ich einen Anruf der Künstlergruppe Rimini-Protokoll, die dokumentarisch-experimentelles Theater und Hörspiel macht. Sie planten ein Stück zum Thema „Karl Marx, Das Kapital, 1. Band“ und hatten sich als ein Bühnenrequisit die Punktschriftausgabe in 13 dicken, schweren Bänden besorgt. Sie suchten jemanden, der auf der Bühne das eine oder andere daraus vorlesen könnte. So kam ich in ein tolles Ensemble von acht Leuten, allesamt keine Schauspieler, aber jeder hatte etwas Interessantes und Persönliches zu erzählen, entweder zum Buch selbst oder zu Aspekten, die darin behandelt werden. Das Stück wurde 2006 in Düsseldorf uraufgeführt. Bis 2012 wurden wir auch von Theatern in Berlin und Frankfurt, in Tokio, Seoul und Moskau eingeladen – insgesamt gab es rund hundert Aufführungen. Eine Hörspielfassung des Stücks erhielt 2008 den Hörspielpreis der Kriegsblinden.

Die Hände eines Mannes gleiten Braille-lesend über ein Blatt, das mit Punktschrift bedruckt ist.
Christian Spremberg liest eine Krimigeschichte auf dem Louis Braille Festival 2024 vor.  ·  Bild: DBSV/Reiner Pfisterer

Der Schlag nach dem Schlag

Da nicht das ganze Jahr Theater gespielt wird, habe ich auch in einem Callcenter gearbeitet – bis zu einem Schlaganfall Ende 2011. Der war glücklicherweise nur klein, ich hatte zeitweise Orientierungsschwierigkeiten, das ließ sich aber mit Medikamenten regulieren. Typische Symptome wie Lähmungen, Sprachbehinderung oder Gedächtnisverlust blieben mir erspart. Allerdings musste ich mir, als ich nach meinem dreiwöchigen Krankenhausaufenthalt und den Weihnachtstagen wieder zurück ins Callcenter kam, von meiner Vorgesetzten sagen lassen, dass ich ja eigentlich in diesem Jahr nicht dran gewesen sei mit Weihnachtsurlaub.

Anschließend kam ich in die Brailleredaktion des Blindenhilfswerks Berlin, wo damals noch die Fernsehprogrammzeitschrift „Braille TV“ erstellt wurde. Daran arbeitete ich bis zum Ende der Brailleredaktion 2016 mit. Anschließend konnten meine Kollegen und ich glücklicherweise im Medienzentrum der Zeune-Schule weitermachen.

Nebenher pflegte ich meine Radioleidenschaft weiter. Carsten Albrecht von Ohrfunk fragte mich, ob ich nicht die eine oder andere Sendung liefern könnte. Ich produzierte einige Sendungen, die ich auf CDs kopierte und die von Ohrfunk ausgestrahlt wurden. Inzwischen bin ich dort Redaktionsmitglied geworden und liefere einmal im Monat eine vierstündige Musiksendung.

Schallplatten aus aller Welt

Darin spiele ich vor allem Musik aus meiner eigenen Schallplattensammlung. Ich sammle schon seit meiner Kindheit. Zunächst war es deutschsprachige Musik der 50er und 60er Jahre, mittlerweile sind quasi alle musikalischen Genres und Platten aus aller Welt vertreten. Letzteres ist hin und wieder eine Herausforderung, wenn man die Platten ordentlich katalogisieren will und die unterschiedlichen Schriften nicht lesen kann bzw. niemanden findet, der das kann. Für Griechisch und Russisch findet man schnell Vorleser, bei Persisch oder Japanisch wird es schon schwieriger. Insgesamt sind es jetzt ungefähr 70.000 Schallplatten, die ältesten sind Grammophonplatten, die meisten der übrigen sind Vinyl-Singles und -LPs. Sie sind in meinem Wohn- und Schlafzimmer untergebracht, doch ich musste einen kleinen Lagerraum mieten, um alle unterbringen zu können.

Obwohl die Tonaufzeichnung ja schon seit mehr als hundert Jahren quasi alltäglich ist, ist es für mich immer noch faszinierend, dass man auch längst vergangene Musikereignisse heute immer noch jederzeit hören kann. Mein Interesse an der Weltmusik kam wieder durch das Radio. Ich habe schon früh über Kurzwelle viele Programme aus aller Welt gehört und dabei auch gerne Musiksendungen gelauscht, weil man dafür keine Fremdsprachenkenntnisse braucht. Ich habe mir von Reisen, sei es im Urlaub oder mit dem Theaterensemble, als Erinnerungsstücke immer Schallplatten aus den bereisten Ländern mitgebracht oder mitbringen lassen. Hin und wieder verarbeite ich gerade solche Musik in meinen Radiosendungen, um auch anderen Menschen dieses Interesse zu vermitteln.

Wenn ich mir neu erworbene alte Platten anhöre, lese ich nebenbei Punktschriftbücher. Ich lese fast alles, was mir unter die Finger kommt: Historisches (auch aus dem Blindenwesen), Reiseberichte, Krimis, gern auch Humoristisches. Manches lese ich gemeinsam mit meiner Partnerin. Sie ist spät erblindet und kann Brailleschrift „für den Hausgebrauch“ lesen. Sie liest schon mal einen Zeitschriftenartikel, für den Rest trete ich in Aktion, als Live-Hörbuch, wie sie sagt.

Christian Spremberg (59), lebt in Berlin. Seine Musiksendung „Do you remember“ ist jeden dritten Montag im Monat ab 19 Uhr auf www.ohrfunk.de zu hören.

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