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Am richtigen Platz angekommen

· André Stahl

„Ich möchte Richter werden“, erzählte André Stahl als Kind, wenn ihn jemand nach seinem Berufswunsch fragte. Doch das war nur eine Schutzbehauptung, denn Feuerwehrmann oder Polizist traute ihm wegen seiner Seheinschränkung niemand zu. Heute ist er Betreuungsrichter, dessen Entscheidungen das Leben anderer beeinflussen. Sein Ehrgeiz hat ihn Ziele erreichen lassen, stand ihm jedoch auch manchmal im Weg.

André Stahl sitzt in Richterrobe am Schreibtisch seines Büros. Er hat kurzes dunkleres Haar und trägt eine Brille. Sein Monitor zeigt einen stark vergrößerten Text an.
Betreuungsrichter André Stahl  ·  Bild: privat

Ich habe einen minimalen Sehrest auf meinem linken Auge. Meine Netzhaut ist unter anderem an der Stelle, die für das scharfe Sehen verantwortlich ist, beeinträchtigt. Darüber hinaus lebe ich mit einem Nystagmus, der es mir erschwert, meinen Blick zu fokussieren. Neben meinen Gesichtsfeldeinschränkungen besteht auch eine starke Kurzsichtigkeit, deshalb gelte ich als gesetzlich blind.

Als Kind habe ich das gar nicht so wahrgenommen, da ich es ja nicht anders kannte. Aufgrund der Diagnose war es mir jedoch zunächst nicht möglich, eine Regelgrundschule zu besuchen, sondern ich wurde auf einer Schule mit dem Förderschwerpunkt Sehen eingeschult. Dank meiner guten Leistungen und des Einsatzes meiner Klassenlehrerin konnte ich nach zweieinhalb Jahren doch auf die Regelgrundschule wechseln. Dort und später auch auf dem Gymnasium habe ich gute Leistungen erbracht, wobei ich – sicherlich auch aufgrund der Seheinschränkung – einen großen zeitlichen Aufwand betrieben habe.

Meine Klassenkameraden fingen irgendwann an, den Führerschein zu machen oder in Discos zu gehen. Sie und ich hatten teilweise unterschiedliche Interessen, da ich weder mit unübersichtlichen Discos noch einem Rollerführerschein viel anfangen konnte.

Meine Familie, also meine Eltern und meine zwei Schwestern, war immer sehr wichtig für mich, da sie mich von Anfang an unterstützt hat. Als Kind wäre es für mich eine Tragödie gewesen, wenn ich auf ein Blindeninternat gemusst hätte, da dies mit einer räumlichen Trennung von meiner Familie einhergegangen wäre. Meine Eltern haben mich sowohl während meiner Schulzeit und meines Jura-Studiums als auch bei meiner Dissertation unterstützt, indem sie beispielsweise Literatur für mich stark vergrößert oder kopiert haben. Die Nähe zu meiner Familie war ein Grund, warum ich mich dazu entschlossen habe, eine Richterstelle in meiner sauerländischen Heimat anzunehmen.

Mitleid mit Stadtkindern

Ich habe es geliebt, auf dem Land auf-zuwachsen, gerade mit meiner Seheinschränkung. In einer größeren Stadt mit unübersichtlicherer Verkehrslage wäre es mir kaum möglich gewesen, mich so frei zu entfalten wie in den Wiesen und Wäldern meines Heimatdorfes. Ich weiß noch, dass wir als Kinder immer Mitleid mit Kindern hatten, die in einer Stadt leben mussten.

Als Student in Münster habe ich die Vorteile der Stadt zu schätzen gelernt. Ohne Führerschein ist ein Leben auf dem Dorf nicht immer einfach. In der Kleinstadt Olpe, in der ich jetzt lebe, kann ich viele Orte zu Fuß erreichen. Als mir die Richterstelle in meiner Heimat angeboten wurde, habe ich daher nicht lange gezögert und diese Entscheidung bis heute nicht bereut.

Als Kind und auch später während meines Studiums war es mir immer wichtig, Dinge genauso gut zu machen wie Menschen ohne Seheinschränkung. Ich bin mit der Angst aufgewachsen, aufgrund meiner Seheinschränkung nicht gut genug zu sein und in der Welt nicht den richtigen Platz zu finden. Darum, und auch um einen Wechsel auf ein Blindeninternat zu vermeiden, habe ich einen extrem großen Aufwand betrieben, um gute Noten zu bekommen.

Daneben hatte ich das Gefühl, mit meiner Behinderung gesellschaftlich weniger anerkannt zu sein als Menschen ohne Behinderung. Es war mein Ziel, durch gute Leistungen während der Schulzeit und im Studium zu beweisen, dass ich trotz meiner Einschränkung dasselbe leisten und erreichen kann wie Menschen ohne Seheinschränkung. Rückblickend hätte ich mir manchmal mehr gestatten sollen, die vielen schönen Erlebnisse in dieser Zeit zu genießen.

Harter Weg ins Richteramt

Ich habe schon in jungen Jahren immer erzählt, dass ich später als Richter arbeiten und mich für Gerechtigkeit einsetzen möchte. Meine Mutter hatte das vorgeschlagen, denn sie ärgerte sich, dass andere mir bereits im Kindesalter sagten, dass ich meinen damaligen Berufswunsch (Feuerwehrmann oder Polizist) aufgrund meiner Seheinschränkung nicht würde ausüben können. Um weitere Fragen nach meinem Berufswunsch zu vermeiden, habe ich daher immer erzählt, später als Richter arbeiten zu wollen – ohne dies zunächst tatsächlich vorzuhaben.

Während eines Gesprächs bei der Bundesagentur für Arbeit vor meinem Abitur habe ich das erste Mal konkret davon gesprochen, später als Richter zu arbeiten. Der Weg ins Richteramt führt über ein Jurastudium sowie das Rechtsreferendariat, jeweils verbunden mit dem Ablegen des Staatsexamens. Diese Stationen waren notwendige Schritte auf dem Weg zu meinem beruflichen Ziel. Dieser Weg war zumeist eher anstrengend und arbeitsintensiv als aufregend.

Heute arbeite ich als Richter für Betreuungssachen an einem Amtsgericht. Ich entscheide darüber, ob Menschen, die sich aufgrund von Erkrankungen oder Behinderungen nicht um die Erledigung ihrer Angelegenheiten kümmern können, Unterstützung durch einen rechtlichen Betreuer bekommen. Dieser Betreuer kann in verschiedenen Bereichen unterstützen, beispielsweise in medizinischen Fragen, bei finanziellen Dingen oder auch bei der Kommunikation mit Behörden. Eine rechtliche Betreuung ist für Menschen gedacht, die ihr Leben nicht selbstständig meistern können, zum Beispiel wegen geistiger Beeinträchtigungen, Depressionen, Suchterkrankungen oder anderen psychischen Erkrankungen.

Die Entscheidungen, die ich treffe, haben oft erheblichen Einfluss auf die Zukunft dieser Menschen und reichen bis in sehr persönliche Lebensbereiche. So habe ich beispielsweise darüber zu entscheiden, ob jemand gegen seinen Willen auf einer geschlossenen psychiatrischen Station behandelt wird.

Ebenso muss ich darüber entscheiden, ob eine Person zwangsweise Medikamente einnehmen oder sie gegen ihren Willen in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden muss, um sie vor erheblichen gesundheitlichen Gefahren zu schützen. Teilweise fallen mir diese Entscheidungen wirklich schwer.

Für eine etwas gerechtere Welt

Mir gefällt an meiner Arbeit vor allem, dass ich in dem kleinen Bereich, den ich gestalte, dafür sorgen kann, dass es auf unserer Welt ein klein wenig gerechter zugeht und dass ich Menschen in schwierigen Lebenssituationen unterstützen kann. Dabei kann ich im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit Arbeitsabläufe frei gestalten und aufgrund der geltenden richterlichen Unabhängigkeit arbeiten, ohne befürchten zu müssen, dass jemand Einfluss auf die inhaltliche Entscheidung nimmt.

In meiner Freizeit spielt meine Seheinschränkung dann und wann natürlich auch eine Rolle. So singe ich in einem Chor, allerdings nicht nach Noten, sondern nach Gehör. Wenn ich ins Fitnessstudio gehe, mache ich das immer mit einem Freund, der bei den Geräten die richtigen Einstellungen für mich vornimmt. Ich laufe auch gern, am liebsten auf bekannten Waldwegen, da dort das Risiko eines Sturzes geringer ist.

André Stahl (37) lebt in Olpe.

Das Buchcover: „Ohne Ansehen der Person: Wie ich als blinder Richter Menschen begegne" von Adnré Stahl, erschienen im Bonivatius Verlag
Bild: Bonivatius Verlag

Das Buch von André Stahl ist 2024 unter dem Titel „Ohne Ansehen der Person: Wie ich als blinder Richter Menschen begegne“ erschienen. Der Autor beschreibt darin lebendig und mit Humor, wie er seine Kindheit und Jugend, sein Studium und die erste Zeit im Beruf meisterte. Auch die Arbeit eines Betreuungsrichters lernen die Leserinnen und Leser näher kennen. Das Buch wurde in Schwarzschrift, als Hörbuch und in Brailleschrift veröffentlicht.

In Schwarzschrift ist es im Bonifatius Verlag erschienen.

Zu weiteren Infos zur Schwarzschriftausgabe

Die Bayerische Hörbücherei bietet es als Hörbuch an.

Zu weiteren Infos zum Hörbuch

In Brailleschrift kann es beim Blindenschrift-Verlag „Pauline von Mallinckrodt“ in zwei verschiedenen Ausführungen bestellt werden.

Zu weiteren Infos zur Brailleversion

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