Aufgrund der politischen Neuaufstellung könnte es künftig schwieriger werden, soziale Errungenschaften zu verteidigen oder voranzubringen, meint DBSV-Präsident Hans-Werner Lange. Er ruft darum zum Schulterschluss mit allen Landesvereinen, Behindertenverbänden und den Sozialverbänden auf. Im Interview berichtet er über die Sitzung des Verbandsrats im Mai in Nürnberg. Themen wie berufliche Teilhabe und eine kleine, aber wesentliche Satzungsänderung wurden diskutiert.

Herr Lange, ein Thema des Verbandsrats sind immer die Finanzen. Wie steht der Verband finanziell da?
Anlässlich unseres Verbandsrats im Mai in Nürnberg haben wir uns intensiv mit der finanziellen Situation des DBSV auseinandergesetzt. Man kann feststellen, dass wir bei einer Bilanzsumme von circa 4,67 Millionen nach einer Haushaltsgröße von rund 4,8 Millionen ein eher normales Jahr hatten. Auf der anderen Seite klafft in diesem Jahr ein Finanzierungsloch von rund 242.000 Euro. Das macht natürlich Sorgen. Wenn wir uns aber die Bilanz des DBSV anschauen, kann man sagen: Wir sind finanziell abgesichert. Wir müssen uns über die nächsten Jahre nicht unmittelbar Sorgen machen. Wir müssen jedoch wieder zu zusätzlichen Einnahmen kommen. Eine der wesentlichen Einnahmequellen sind unter anderem die Mitgliedsbeiträge, die im vergangenen Jahr gesunken sind.
Wie kann man dem Mitgliederschwund entgegenwirken?
Alle Landesverbände sind durch ihre Kernaufgabe, Beratung sicherzustellen, immer dabei, Mitglieder zu gewinnen. Bei uns sind viele alte Menschen organisiert, bei Kindern und Jugendlichen sieht es nicht so gut aus. Noch mehr Sorgen macht mir, dass es uns kaum gelingt, die große Gruppe der etwa 25- bis 55-Jährigen, die im Berufsleben stehen, an die Verbandsarbeit heranzuführen. Wie bringen wir ihnen näher, dass wir auch in puncto berufliche Rehabilitation etwas zu bieten haben und entsprechend beraten können? Wir müssen uns intensiv bemühen, den Mitgliederschwund zu stoppen. Beratung ist die schönste und wichtigste Aufgabe, aber dabei darf nicht vergessen werden, dass es auch um das Ziel geht, Menschen für unsere Arbeit im Verband oder für die Mitgliedschaft zu gewinnen.
Haben Sie beim Verbandsrat von guten Ideen gehört, wie man noch mehr Mitglieder gewinnt?
Es ist wichtig, die Jugendarbeit zu intensivieren und mit den Eltern ins Gespräch zu kommen. Bei Menschen im mittleren Alter geht es darum, ihnen berufsorientierte Angebote und Freizeitangebote zu machen. Es geht um Fortbildung, aber auch um kulturelle Angebote – für diese Gruppen müssen wir altersorientiert denken. Das ist ein Thema für unseren Prozess 2030, der Prozess zur Weiterentwicklung der DBSV-Familie.
Wie blicken Sie auf den Gastvortrag von Daniel Terzenbach, der als Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit für den Bereich Regionen zuständig ist?
Das war ein interessanter Vortrag. Daniel Terzenbach war sehr offen und hat sich solidarisch gezeigt mit dem, was wir tun, um blinde und sehbehinderte Menschen beruflich voranzubringen oder im Beruf zu halten. Er hat mehrfach betont, dass es wichtig sei, dass wir miteinander im Gespräch sind und an Lösungsmöglichkeiten arbeiten. Das hat Mut gemacht und ist glaubwürdig rübergekommen. Wir werden das Angebot zum Gespräch mit der Bundesagentur für Arbeit nutzen.
Beim Thema Politik und Recht gab es verschiedene Unterpunkte. Einer davon war, dass Einsparungen künftig Menschen mit Behinderungen härter treffen könnten. Wie kann der Verband eventuell auch vorbeugend dagegen vorgehen?
Ein Blick in den Koalitionsvertrag zeigt: Die Themen, um das soziale Miteinander voranzubringen im Bereich der Renten-, der Kranken-, der Pflegeversicherung und bei behinderungspolitischen Entwicklungen werden genannt, aber es ist eine gewisse Zurückhaltung zu bemerken. Wir können uns vorstellen, dass es angesichts der Neuorientierung in der Politik zu „Verteilungskämpfen“ kommen wird.
Unsere Aufgabe wird es sein, dafür zu sorgen, dass die sozialen Anforderungen nicht zu kurz kommen. In sozialen Fragen wird es nicht automatisch so weitergehen wie bisher. Für uns wird es wichtig sein, im Vorfeld zu diesen Diskussionen Geschlossenheit zu zeigen: mit unseren Landesverbänden, den korporativen Mitgliedern, den Sozialverbänden und anderen Behinderten-verbänden. Wir müssen Schulter an Schulter stehen und dürfen uns keine Angst machen lassen. Wir müssen uns trauen zu sagen: Bis hierhin und nicht weiter! Die Aufgabe des DBSV wird es sein, das in der DBSV-Familie zu koordinieren.
Beim Verbandsrat wurde darüber abgestimmt, sich in der Satzung zu Demokratie und Menschenrechten zu bekennen. Warum ist das wichtig?
Wir nehmen einen Rechtsruck in der Gesellschaft wahr. Bei sich verändernden Mehrheitsverhältnissen können plötzlich Dinge, die für behinderte Menschen eine Bedeutung haben – wie inklusive Gesellschaft, Teilhabe, Gleichberechtigung – in Frage stehen.
Wichtig ist, dass wir in unserer Satzung ein klares Bekenntnis abgeben zu unserem demokratischen System und uns auf die Menschenrechte beziehen. Damit senden wir ein deutliches Signal denen gegenüber aus, die diese Werte zum Nachteil vieler Menschen verändern wollen. Ich bin froh, dass es da einen Konsens innerhalb des Verbandsrats gab und der DBSV seine Satzung entsprechend weiterentwickeln soll. Die Landesverbände können sich darauf berufen und ihre eigenen Satzungen ebenfalls entsprechend ergänzen.
Im kommenden Jahr wird Ende Juni in Berlin der Verbandstag stattfinden. Welche Themen müssen dort mit hoher Dringlichkeit mit den Delegierten der Mitgliedsorganisationen erörtert werden?
Wir haben einige Pflichtaufgaben zu erledigen, zum Beispiel den Bericht des Präsidiums abgeben, die Satzung ändern und das Präsidium neu wählen. Dann müssen wir sehen, welche Themen für die Mitglieder und im Blinden- und Sehbehindertenwesen eine besondere Bedeutung haben. Darüber haben wir uns jetzt schon Gedanken gemacht.
Eine entscheidende Frage wird sein, wie eine inklusive Gesellschaft geschaffen werden kann – ohne Barrierefreiheit und die entsprechenden Rahmenbedingungen wird das nicht funktionieren. Es wird auch um den Einsatz von Künstlicher Intelligenz gehen, nicht nur für unsere Arbeit, sondern insbesondere im Bereich der Orientierung. Teilhabemöglichkeiten durch Technik werden uns beschäftigen, wobei das Thema Robotik eine Rolle spielen wird.
Wir werden schauen, wo wir im Prozess 2030 stehen und zum Beispiel die Frage erörtern, wie wir zukünftig mit dem Thema Mitgliedschaft umgehen: Nehmen wir sehende Menschen auf und können sie Ämter in unseren Landesvereinen übernehmen? Oder steht dann die Selbsthilfe an sich in Frage? Der Verbandstag ist das Forum, diese Dinge auf einer breiteren Ebene anzusprechen. Darum geht mein Appell in alle Landesverbände: Nehmt so viele Delegierte wie möglich mit zum Verbandstag! Es sollen viele Menschen mitdiskutieren. Wie wollen wir unsere Zukunft gemeinsam gestalten? Wie geht es mit der demokratischen Entwicklung weiter? Daraus resultiert die Frage, wie es mit den Rechten behinderter Menschen weitergeht. Viele Dinge also, die aktuell bleiben werden und uns beim Verbandstag im nächsten Jahr beschäftigen werden.