Städte, Kreise und Gemeinden sind laut UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet, Menschen mit Behinderung eine gleichberechtigte Teilhabe in allen Lebensbereichen zu ermöglichen. Doch eine Studie der Universität Siegen und des Deutschen Instituts für Menschenrechte ergab, dass mehr als die Hälfte der Kommunen noch nicht einmal mit der Planung zu Inklusion begonnen hat. Warum Planung aber wichtig ist für das Gelingen von Inklusion, erklärt Prof. Dr. Albrecht Rohrmann von der Uni Siegen im Interview.

Herr Prof. Dr. Rohrmann, Sie haben das Forschungsprojekt „Kommunale Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention“ geleitet. Untersucht wurden die Planungsaktivitäten von Kommunen ab 50.000 Einwohnern und Einwohnerinnen und teilweise auch die in kleineren Städten und Kreisen. Was hat ihr Team festgestellt?
Wir konnten feststellen, dass das Thema Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, kurz UN-BRK, auf der kommunalen Agenda angekommen ist. 41 Prozent der von uns untersuchten Städte mit mehr als 50.000 Einwohnerinnen und Einwohnern und Kreise haben einen systematischen Planungsprozess begonnen oder abgeschlossen. Darüber hinaus gibt es viele, in denen ein Impuls gesetzt ist, aber noch kein Beschluss gefasst wurde. Andererseits wurde in knapp 60 Prozent der untersuchten Kommunen noch kein solcher Planungsprozess begonnen.
Woran liegt das?
Es gibt eine Verpflichtung der Kommunen zur Umsetzung der UN-BRK. Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat im Rahmen des Projektes ein Rechtsgutachten angefertigt, das dies bestätigt. Aber es gibt für die Kommunen keine verbindlichen Vorgaben, wie sie die Konvention umsetzen sollen. Sie müssen das nicht durch eine Planung machen. Eine solche Planung ist jedoch aus unserer Sicht zwingend erforderlich.
Die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe in allen Lebensbereichen lässt sich nämlich nur umsetzen, wenn eine Kommune systematisch zunächst untersucht: Wie sieht es bei uns aus in den Bereichen, für die wir zuständig sind, und in den Bereichen, die für die Einwohnerinnen und Einwohner wichtig sind? Erst dann können sie sich überlegen: Wie schaffen wir es, die Vorgaben der UN-BRK umzusetzen? Das geht nur systematisch planerisch.
Da machen also die Kommunen, die schon vorangeschritten sind im Bereich UN-BRK, etwas richtig.
Auf jeden Fall. Auch dort ist leider eine volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe noch nicht möglich. Die Pläne, die wir untersucht haben, sind an vielen Stellen unbefriedigend. Sie beziehen sich eher auf Einzelmaßnahmen, blenden bestimmte Lebensbereiche aus und bleiben bei den Zielen vage. Aber diese Kommunen haben einen Ansatzpunkt gefunden, auf den sich Menschen mit Behinderung berufen und etwas einfordern können.
In welchen Bereichen sind diese Kommunen besonders fortschrittlich?
Die Kommunen sind stark in den Bereichen, für die sie unmittelbar zuständig sind: die barrierefreie Gestaltung ihrer eigenen Gebäude, also der Rathäuser und der Verwaltungsgebäude. Viele Aktivitäten beziehen sich auf Gebäude, die den Kommunen gehören, Schwimmbäder und Ähnliches. Auch bei neuen Gebäuden orientieren sie sich an der UN-BRK.
Die Pläne weisen große Lücken und Mängel auf, wenn es darum geht, systematisch an der Überwindung von Barrieren zu arbeiten. Man sollte nicht nur von den DIN-Normen ausgehen, sondern auch überlegen: Wie können wir Lösungen finden unter Einbeziehung von Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen? Wie können wir es so machen, dass es wirklich für alle gut wird? Eine systematische Planung setzt einen starken Impuls voraus, diese Dinge anzugehen und Menschen mit Behinderung stärker zu ermutigen, sich in solche Prozesse einzubringen und sie kritisch zu begleiten.
Gibt es Gemeinsamkeiten von Kommunen, die gut vorankommen? Haben sie eine bestimmte Einwohnerzahl oder liegen sie eher im Süden als im Norden oder umgekehrt?
Nein, das kann man nicht sagen. Das ist auch ein wenig das Problem: Die Kommunen lernen aus unserer Sicht zu wenig voneinander. Sie schauen nicht, was andere bereits gut umgesetzt haben. Man hat manchmal den Eindruck, das Rad wird immer wieder neu erfunden. Die Planungsprozesse werden so unterschiedlich strukturiert, dass es uns nicht gelungen ist, Typen von bestimmten Planungsprozessen zu bilden. Was man sagen kann, ist: In größeren Kommunen gibt es eine organisierte Interessenvertretung, oft auch hauptamtliche Behinderten- oder Inklusionsbeauftragte oder Koordinationskräfte. Und es gibt häufig eine aktive Szene im Bereich der Selbstorganisation, also Selbsthilfegruppen, die sich zusammenschließen, und Beiräte, die diese Prozesse begleiten. Das begünstigt den Start von systematischen Planungsaktivitäten. Das haben wir in kleineren Kommunen nicht so häufig gefunden, vor allem nicht in kreisangehörigen kleinen Kommunen. Eine Erkenntnis des Projektes ist: Es wäre wichtig, in den Kreisen einen Prozess der interkommunalen Zusammenarbeit oder auf Kreisebene eine Zusammenarbeit mit den kreisangehörigen Gemeinden und Städten anzustoßen und zu begleiten.
Wie bewerten Sie die Ergebnisse der Untersuchung insgesamt?
Positiv hervorheben möchte ich, dass die Entwicklung eines inklusiven Gemeinwesens auf der kommunalen Agenda angekommen ist. Aber die Planungsprozesse weisen noch erhebliche Mängel auf. Beim Thema Barrierefreiheit etwa bleiben die Maßnahmen, die in den Planwerken geschildert werden, häufig vage. Da wird nur gesagt, es soll bei der und der Maßnahme auf Barrierefreiheit geachtet werden. Wir haben auch Interviews geführt mit Selbstvertreterinnen und -vertretern in den Kommunen. Sie sagen, dass es keine Strategie dafür gebe, das Thema Barrierefreiheit immer mit einzuplanen; sie müssten immer wieder bei Null anfangen.
Oder das Thema selbstbestimmte Lebensführung: Da macht Artikel 19 der UN-BRK klare Vorgaben in Richtung Überwindung von Sondereinrichtungen. Die Kommunen sind dafür zwar nur teilweise zuständig, aber sie klammern das Thema auch eher aus und sagen, wir schaffen lieber Beratungsangebote oder achten bei der Quartiersentwicklung darauf, dass Menschen mit Behinderungen selbstständig leben können. Nur wenige Kommunen machen selbstbestimmte Lebensführung zu einem Schwerpunkt für eine gleichberechtigte Teilhabe. Das ist aber ein zentraler Punkt.
Wie können Kommunen, die noch nicht oder kaum aktiv sind im Bereich Inklusion, bewegt werden, gesellschaftliche Teilhabe für alle zu ermöglichen? Und wer kann das tun?
Solche Prozesse können auf Landesebene gefördert werden, zum Beispiel kann man Fördergelder zur Verfügung stellen oder entsprechende Vorschriften in den Behindertengleichstellungsgesetzen der Länder verankern. Davor scheuen sich aber die meisten Länder: Zum einen verweisen sie auf das Recht der Kommunen auf Selbstverwaltung. Zum anderen greift dann das Konnexitätsprinzip, also wer bestellt, der muss auch bezahlen. Davor fürchten die Länder sich, und deswegen lassen sie es bei weichen oder überhaupt keinen Empfehlungen.
Immerhin läuft der interkommunale Austausch auf Landesebene teilweise: Zum Beispiel organisieren Landesbehindertenbeauftragte einen Austausch zwischen den Kommunen. Da wird geschaut, wie es die anderen machen. Das könnte man auch auf einer kleineren, regionalen Ebene machen und gucken: Wie machen es unsere Nachbarkommunen? Dass die Kreise und die kreisangehörigen Gemeinden zusammenarbeiten, scheint mir ein sehr guter Ansatz zu sein.
Wir stellen die Untersuchungsergebnisse und Materialien auch in einem Internetangebot des Deutschen Instituts für Menschenrechte zur Verfügung. Wir haben eine Zusammenstellung zu allen Planungsschritten gemacht. Planungsprozesse, die wir genauer untersucht haben, stellen wir anonymisiert vor. Man kann sehen, wie es dort gelaufen ist und was aus Sicht der Forschung Stärken und Schwächen sind. Man findet auch Auswertungen, die sich auf die Länder beziehen, und das Rechtsgutachten. Mit all dem kann man arbeiten, daran anknüpfen oder vielleicht auch vor Ort erstmals das Thema setzen und in einen Planungsprozess einsteigen.
Werden die Ergebnisse auch aktiv an die Kommunen herangetragen?
Ja, das versuchen wir intensiv. Wir laden ein zu einer großen Online-Abschlussveranstaltung am 12. September und lassen uns auch gern zu Veranstaltungen auf überregionaler Ebene einladen, um unsere Ergebnisse und Schlussfolgerungen vorzustellen. Häufig beraten wir auch Kommunen. Unsere Möglichkeiten sind leider begrenzt. Wir sehen auf Länderebene mehr Möglichkeiten, diese Prozesse zu unterstützen. Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat auch den Auftrag, solche Umsetzungsprozesse zu begleiten. Wir an der Uni werden weiter in diesem Themenbereich arbeiten und stehen auch weiter zur Verfügung, solche Prozesse durch Beratung, Vorträge und Ähnliches zu begleiten.
Zum Projekt
Prof. Dr. Albrecht Rohrmann ist Professor für Sozialpädagogik an der Universität Siegen und Sprecher des dortigen Zentrums für Planung und Entwicklung Sozialer Dienste (ZPE). Das ZPE ist ein interdisziplinäres Forschungszentrum. Gemeinsam mit der Monitoring Stelle UN-BRK des Deutschen Instituts für Menschenrechte (DIMR) hat es das Projekt „Die UN-Behindertenrechtskonvention in den Kommunen“ durchgeführt.
Zu den Projektergebnissen und weiterführender Literatur
Beim DIMR wurde eine Internetplattform mit zahlreichen Materialien für die planerische Umsetzung der UN-BRK eingerichtet.
Zur Internetplattform des DIMR
Die Online-Abschlussveranstaltung des Projekts findet als Videokonferenz am Freitag, 12. September, von 10 bis 15 Uhr auf der Plattform Zoom statt. Anmeldung erbeten.