„Wir spielen alle eine Rolle“
Interview mit Noam Brusilovsky

· Christoph Ledder

Noam Brusilovsky hebt lachend den linken Zeigefinger. Seine Nägel sind lackiert. Er trägt einen schwarzen Pullover mit dem Aufdruck "Kein Mensch ist illegal".
Noam Brusilovsky

Herr Brusilovsky, wie fühlen Sie sich als Gewinner des Hörspiel­preises der Kriegsblinden – Preis für Radiokunst?

Ich bin doppelt glücklich. Ich freue mich riesig über den Preis für "Die Arbeit an der Rolle". Außerdem kann ich die zweite Nominierung für das Hörspiel "Adolf Eichmann – ein Hörprozess" kaum in Worte fassen. Das Stück habe ich gemeinsam mit Ofer Waldmann produziert. Ich bin froh, dass die Jury gleich drei dokumentarische Hörspiele nominiert hat für einen Preis, der eigentlich ein literarischer Preis ist. Ich glaube, es ist ein Zeichen dafür, dass Menschen Geschichten hören wollen, die sich mit der Realität befassen.

Der Preis wird für Radiokunst vergeben. Was macht für Sie den Reiz an Radiokunst aus?

Obwohl ich nur durch Zufall zum Radio gekommen bin, liebe ich die Arbeit mit und in diesem Medium. Das Radio gibt mir große Freiräume. Außerdem habe ich das Gefühl, dort eine Störung auszulösen und dass ich diese Störung bin. Mit meinem Radioprogramm komme ich durch den Empfänger in die Wohnzimmer der Menschen, sorge dort für einen kurzen Moment für Chaos und verschwinde nach einer Stunde wieder.

In "Die Arbeit an der Rolle" ist Lucia Lucas die Protagonistin des Stückes. Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit ihr?

Vor der Corona-Pandemie las ich ein Zeitungs-Interview mit Lucia. Da sie mich als Person sehr interessierte, habe ich Kontakt zu ihr aufgenommen und ihr geschrieben, dass ich gerne eine Geschichte über sie machen möchte. Zu dem Zeitpunkt, als wir die ersten E-Mails hin- und herschrieben, gab es bei mir noch viele weitere Projekte. Kurze Zeit später kam der erste Lockdown, und alles war auf Eis gelegt. Da Lucia eine Opernsängerin ist, konnte sie zu dieser Zeit nicht auftreten, da sämtliche Opern- und Theaterhäuser geschlossen waren. Dann habe ich nochmals Kontakt zu Lucia aufgenommen und sie gefragt, ob nun die richtige Zeit für das Projekt sei. Während der gesamten Arbeit haben wir uns nicht gesehen und zahlreiche E-Mails geschrieben und uns gegenseitig Texte und Ideen zugeschickt.

Worin lagen die Schwierigkeiten bei der Produktion?

Fakt ist, dass es nicht leicht war, während der ersten Corona-Welle zu produzieren. Der ursprüngliche Plan, das Hörspiel mit großen Orchesteraufnahmen zu produzieren, fiel leider aus. Wir wollten Lucia bei ihren Opernproben begleiten, doch aufgrund der Pandemie fanden sie nicht statt.

Es tat mir in der Seele weh, denn wir waren drauf und dran, eine große Crew ins Theater zu schicken, in dem Lucia damals gesungen hat, um die Aufnahmen zu machen. Da wir das aufgrund der Pandemie nicht konnten, haben wir uns für eine kleine und intime Aufnahme im Studio entschieden, in dem nur sie und ein Pianist gemeinsam an dem Stück "Don Giovanni" arbeiteten.

"Don Giovanni" von Wolfgang Amadeus Mozart gehört zu den klassischen Opern. Hatten Sie vor der Arbeit mit Lucia Lucas bereits Berührungspunkte mit dem Opern-Genre?

Vor der Arbeit am Hörspiel hatte ich absolut keine Ahnung von Opern. Auf diesem Gebiet war ich ein Neuling. Durch die Begegnung mit Lucia habe ich extrem viel über Opern gelernt. Ich glaube heute auch, dass meine anfängliche Ignoranz von Vorteil war, da ich alles zum ersten Mal hörte und deswegen vollkommen unbefleckt an das Thema heranging. Man kann es mit einem Baby vergleichen, das irgendwann das Laufen lernt. Das war alles ganz toll und seitdem habe ich immer wieder Lust, gemeinsam mit Freunden und Bekannten Operngeschichten zu erzählen.

Im Hörspiel verwenden Sie Motive aus der Novelle "Don Juan" von E.T.A. Hoffmann. Welche Idee steckte dahinter?

Bei Lucia brauchten wir einen Blick von außen, und in der Erzählung von E.T.A. Hoffmann wird die Geschichte eines Opernliebhabers erzählt, der durch Zufall in eine Aufführung von "Don Giovanni" gerät und in seiner Loge einer Opernsängerin begegnet. Plötzlich taucht sie dort bei ihm in der Pause auf, und sie unterhalten sich über Kunst und das Leben im Allgemeinen. Ich glaube fest daran, dass das die Begegnung zwischen Lucia und mir ist – sie als Sängerin, ich als Zuschauer.

Ein weiteres zentrales Thema in "Die Arbeit an der Rolle" ist Transgender. 2014 outete sich Lucia Lucas als Transgender-Frau und sang weiterhin männliche Rollen. Finden Sie, dass das Outing als Transgender-Frau oder -Mann immer noch ein gesellschaftliches Tabu darstellt?

Ich glaube nicht, dass es um ein Tabu geht, genauso wenig wie um die Frage, ob die Gesellschaft bereit ist oder nicht. Vielmehr geht es darum, wie man bestimmte Rollen spielen muss und welche Rollen man sich aussuchen darf. Lucia sagt im Hörspiel, dass sie ihr Leben lang einen Mann spielen musste. Aufgrund ihrer Stimme muss sie auch auf der Bühne Männerrollen verkörpern. Gleichzeitig erzählt sie im Hörspiel, dass sie Männer unheimlich gern spielt und sie sehr viel Übung darin hat.

Während der Produktion des Hörspiels haben Sie Lucia Lucas in ihrer Bühnenrolle erlebt. Sind Sie ihr auch als Privatmensch nähergekommen?

Ja, natürlich. Dadurch dass wir die Aufnahmen für das Stück gemeinsam machten, uns insgesamt zweimal begegnet sind und viele Stunden miteinander gesprochen haben, lernten wir uns natürlich auch privat näher kennen. Zwischen Lucia und mir ist es eine sehr herzliche Beziehung. Und obwohl mittlerweile fast ein Jahr vergangen ist, seitdem das Hörspiel gesendet wurde, haben wir immer noch sehr guten Kontakt. Ich folge Lucias Karriere, freue mich über die Erfolge ihrer unterschiedlichen Produktionen und bewundere die Sachen, die sie macht.

Welche Botschaft hat das Hörspiel?

Ich glaube, wir spielen alle eine Rolle in unserem Leben. Die Frage ist nur, welche Rollen uns zugeschrieben sind und welche wir uns selbst aussuchen. Außerdem sollten wir uns hinterfragen, mit welcher Leichtigkeit wir die Rollen spielen. Möglicherweise ist das Hörspiel ein Aufruf für jede Person zu analysieren, welche Rolle einem persönlich zugeschrieben wurde und wo man Freiheitsräume in der Gestaltung seines Selbst hat.

Welche Rolle wurde Ihnen persönlich zugeschrieben?

Mir wurde von Geburt eine männliche Identität zugeschrieben. Als Kind wollte ich immer mit Barbie-Puppen spielen, doch es wurde mir seitens meiner Eltern verboten. Irgendwann schenkten mir meine Eltern eine Ken-Barbie, die männliche Version der Barbie  –  verbunden mit der Hoffnung, dass ich nicht homosexuell werde. Doch Überraschung! Ken war vielleicht ein Fehler.

Ich frage mich immer wieder, ob ich die Möglichkeit gehabt hätte, mich anders zu entfalten, wenn mir die männliche Rolle nicht zugeschrieben worden wäre. Die Frage kann ich mir nicht beantworten, denn ich bin ein Mann geworden.

Welche Projekte stehen in naher Zukunft an?

Momentan probe ich in München am Volkstheater ein Stück mit dem Titel "Arche Nova". Außerdem bereite ich momentan die Produktion von weiteren Hörspielen bei öffentlich-rechtlichen Sendern vor. Zwei von ihnen werden noch in diesem Jahr produziert, was mich natürlich sehr freut. Das Jahr 2022 wird noch viel Spannendes für mich bringen.

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