Braille lebt! Nicht Louis Braille persönlich, aber die von ihm erfundene Punktschrift, heute meistens Brailleschrift genannt. Auch 200 Jahre nachdem sie in die Welt gekommen ist, ist sie präsent und vielfältig einsetzbar. DBSV-Sozialreferent Reiner Delgado erklärt, warum das Computer-Zeitalter der Brailleschrift nicht schadet und wie sie im digitalen Bereich genutzt wird.

Reiner, in diesem Jahr feiern blinde und sehbehinderte Menschen das 200-jährige Bestehen der Brailleschrift. Wie wurde sie erfunden?
Louis Braille hat sie erfunden. Er war damals ein sechzehnjähriger blinder Jugendlicher. Er stammte aus der Nähe von Paris und ist als Kind erblindet. In Paris ging er in eine Blindenschule. Davor gab es vor allem Schriften, die normale Buchstaben zum Tasten nachbildeten. Am verbreitetsten war die sogenannte Stachelschrift. Mithilfe stachliger Typen, die ins Papier gedrückt wurden, wurden die Linien der Buchstaben in punktierter Form nachgebildet. Ich habe solche Bücher mal in der Hand gehabt – die Schrift lässt sich überhaupt nicht gut lesen.
Louis Braille hatte aber ein anderes Vorbild für seine Schrift.
Richtig. Der französische Offizier Charles Barbier hatte sich eine Schrift für Soldaten ausgedacht, die mit Punkten funktioniert. Sie war kompliziert und hat sich im militärischen Bereich nicht durchgesetzt. Damit ist er an die Blindenschule gegangen, an der Louis Braille war. Er dachte, das wäre doch eine gute Sache für blinde Menschen. Braille fand das System interessant, aber nicht praktikabel. Er wollte die Repräsentation von Buchstaben durch Punktkombinationen erschaffen und kam irgendwann auf die sechs Punkte. Jede Punktkombination stellt einen Buchstaben dar. Er hat lange daran gearbeitet, und 1825 war er fertig.
Ist die Brailleschrift in jeder Sprache nutzbar?
Mit den sechs Punkten gibt es 64 Punktkombinationen, und was man ihnen zuordnet, ist im Prinzip offen. Louis Braille hat es für das lateinische Alphabet gemacht, also für die Buchstaben A bis Z. Im Laufe der Zeit hat sich gezeigt, dass man für jede Sprache Sonderzeichen definieren muss. Im Französischen gibt es zum Beispiel viele Wörter mit Akzent über bestimmten Buchstaben. Die jeweiligen Nutzerinnen und Nutzer der Sprachen haben sich Sonderzeichen ausgedacht, etwa für das ß im Deutschen.
Wie lässt sich Braille im digitalen Bereich anwenden?
Bei der digitalen Anwendung von Braille denkt man natürlich vor allem an die Braillezeile, ein längliches Gerät, das man an den Computer anschließt oder mit einem Smartphone über Funk verbindet. Damit kann jeweils eine Zeile Blindenschrift dargestellt werden.
Viele Braillezeilen haben auch eine eigene Eingabetastatur. Das ist gerade am Smartphone interessant, weil man dann auch auf der Brailletastatur schreiben kann. Es gibt für das iPhone auch eine spezielle App namens „RTFC Übersetzer“. Das ist ein Punktschrift-Umwandlungsprogramm: Man kopiert einen Text hinein und bekommt ihn in Kurzschrift angezeigt.
Das ist ja praktisch.
Nicht ganz. Auch im elektronischen Zeitalter ist die Zeit das Problem. Wenn Sehende einen Artikel beispielsweise auf Zeit Online lesen, rufen sie ihn auf und lesen ihn. Bis ich ihn lesen kann, muss ich meine Braillezeile verbinden und mehrere Zwischenschritte machen, bis ich ihn in Braille lesen kann. Auch die Braille-Verlage arbeiten viel elektronisch, brauchen aber trotzdem relativ lange, bis sie ein neues Buch in Braille anbieten können. Braille kriegt man also oft nur verzögert. Relativ neu sind Flächendisplays, das sind quasi Braillezeilen, die mehrere Zeilen haben oder eine einheitliche Fläche von Punkten, auf denen man mehrzeilige Texte lesen kann. Auch Grafiken kann man sich anzeigen lassen. Diese Entwicklung kann zu einem anderen Lesegefühl führen, als man es auf einer Braillezeile hat.
Dieses Jahr stehen anlässlich des Jubiläums viele Aktionen an, auch vom DBSV. Welche sind die spannendsten, und bei welchen können alle mitmachen?
Am spannendsten finde ich unsere Braille-200-Aktion, die wir mit der Europäischen Blindenunion machen. Menschen können uns etwas schicken, das mit Brailleschrift zu tun hat, also persönliche Erfahrungsberichte, ausgedachte Geschichten oder Gedichte, Spiele oder Hinweise auf diese Dinge. In Schriftform, als Audio oder Video. Wir veröffentlichen jeden Tag einen Beitrag zu der Aktion auf unserer Seite livingbraille.eu. Über diesen Beitrag informieren wir täglich per E-Mail in einem Newsletter, und auch auf unserer Facebook-Seite erscheinen täglich neue Texte und Beiträge.
Ist 2025 also ein guter Zeitpunkt, um die Brailleschrift zu lernen?
Im Grunde schon. Beim DBSV haben wir ja das Punktum-Projekt: Dafür haben wir einen Braillekurs mit vielen Materialien entwickelt. Er ist abwechslungsreich, auch mit Rätseln und vielem mehr. Durch die Fülle des Materials hat man viele Möglichkeiten zu üben.
Es gibt heute immer mehr Möglichkeiten, sich mittels Audio-Angeboten zu informieren. Gibt es Befürchtungen, dass die Brailleschrift nach 200 Jahren ausgedient hat? Wenn ja, was sollte man dagegen tun?
Was man dagegen tun sollte, ist natürlich, dass man sie benutzt. Es gibt in der Tat heute vieles zum Hören. Oft sind aber das Lesen und das Schreiben die bessere Option. Wenn ich mich am Computer in meinem Word-Programm oder in einer anderen Software bewege, ist das viel effizienter, wenn ich Braille nutze. Das gilt auch fürs Schreiben. Jetzt gibt es auch für Handydisplays eine Braille-Bildschirmeingabe. Damit schreiben viele schneller als Sehende auf ihrem Smartphone. Das ist witzig, denn dafür wurde die Brailleschrift natürlich nicht entwickelt. Die Anwendung zeigt aber, wie flexibel und praktisch die Brailleschrift ist. Sie lässt sich in das technische Zeitalter herüberretten.
Sie kann also weiterbestehen.
Ja, und Braille zu lesen, macht einfach Spaß. Menschen benutzen Schrift – eine Kulturtechnik, die uns auch zu Menschen macht. Für mich persönlich ist es sehr wichtig, sie zu benutzen.
Aktion „Braille 200“
Geschichten über das Erlernen der Brailleschrift, das Lesen und Leben damit werden bei der Aktion „Braille 200“ gesammelt, einer Initiative der Europäischen Blindenunion. Alle können mitmachen. Auf der Internetseite www.livingbraille.eu werden die Beiträge veröffentlicht. Das können auch Fotos, Videos, Bilder, Gedichte und Audiostücke sein. Wer jeden Tag einen neuen Beitrag erhalten möchte, abonniert über www.livingbraille.eu den Newsletter zur Aktion.