Digitalisierung ja, Digitalzwang nein
Interview mit Julia Witte

· Ute Stephanie Mansion

Wenn wichtige Dienstleistungen nur noch digital angeboten werden, kann von Digitalzwang gesprochen werden. Der Verein Digitalcourage setzt sich gegen diese Art von Zwang ein und fordert in einer Petition, ein „Recht auf Leben ohne Digitalzwang“ ins Grundgesetz aufzunehmen. Im Interview erläutert Julia Witte, Redakteurin und Presseverantwortliche bei Digitalcourage, die Hintergründe.

Julia Witte hat lange hellere Haare, eine große Brille mit schmalem Rand und schaut lachend in die Kamera. Sie trägt ein dunkles Oberteil, darüber einen Blazer sowie eine Halskette mit einem großen Anhänger.
Julia Witte, Redakteurin und Presseverantwortliche beim Verein Digitalcourage  ·  Bild: Melanie Lübbert

Frau Witte, der Verein Digitalcourage hat eine Petition gestartet, in der ein „Recht auf Leben ohne Digitalzwang“ gefordert wird. Was verstehen Sie unter Digitalzwang?

Digitalzwang nennen wir es, wenn an wichtigen Stellen ein Dienst verlagert wird, der vorher auf andere Art und Weise angeboten wurde – Dienste, für die kein digitales Endgerät nötig war. Auf einmal werden solche Dienste beispielsweise nur noch über eine App angeboten. Diesen Fall beobachten wir immer häufiger. Besonders schlimm finden wir es, wenn das einen Bereich der Grundversorgung betrifft, etwa das Zugfahren, den Postverkehr und die medizinische Versorgung.

Wen und was möchten Sie mit der Petition erreichen?

Wir fordern ein Grundrecht, das heißt, wir fordern die Aufnahme eines Rechts auf Leben ohne Digitalzwang ins Grundgesetz. Es ist nicht so, dass wir keine Digitalisierung wollen, ganz im Gegenteil, aber wir wollen eine nützliche Digitalisierung, die den Menschen dient. Und an einigen Stellen auch eine etwas kreativere Digitalisierung. Das Prinzip „Wir bieten alle Services nur noch über eine App an“ ist unkreative Digitalisierung. Wir wünschen uns eine Digitalisierung, die möglichst viele Menschen teilhaben und uns allen Wahlfreiheit lässt.

Wie zeigt sich der Digitalzwang in den genannten Bereichen?

Bei der Post hat zum Beispiel DHL eine neue Packstation eingeführt. Theoretisch kann jedes Paket an eine Packstation umgeleitet werden. Wenn nun mein Paket an eine neue Packstation umgeleitet wird, stehe ich vor einer Packstation ohne Display; es gibt nur einen Aufkleber, der besagt: Installieren Sie die App! Ohne App komme ich nicht weiter. Es gibt einen Weg, sein Paket neu zustellen zu lassen, aber diese Information hat die Post gut versteckt.

Bei der medizinischen Versorgung ist wahrscheinlich den meisten schon mal ein Anbieter wie Doctolib untergekommen. Viele Arztpraxen sind telefonisch nicht mehr erreichbar; die Patientinnen und Patienten sollen online einen Termin vereinbaren, womöglich ausschließlich über eine digitale Plattform. Wer das nicht möchte, hat Pech. Das finden wir nicht in Ordnung.

Auf einem Smartphone-Display ist die App "DB-Navigator" geöffnet. Es werden Verbindungen von Hamburg nach Berlin angezeigt.
Deutsche Bahn AG / Dominic Dupont
Links im Bild liegt ein dunkles Tablet, rechts daneben ein Ringbuch.
Pixabay/Rudy and Peter Skitterians

Ärger gab es ja auch wegen der Bahncard.

Die Deutsche Bahn hatte zunächst angekündigt, dass die Bahncard nur noch über die App erhältlich sein soll. Dann ist sie zurückgerudert, weil es viel Protest gab. Jetzt kann man ein Ersatzdokument ausdrucken, allerdings muss man dafür einen Online-Account bei der Bahn haben. Wer nicht online ist, und das sind in Deutschland immerhin fünf bis sechs Prozent der Bevölkerung, bekommt keine Bahncard mehr. Im vergangenen Herbst hat die Bahn zudem angekündigt, die Sparpreistickets nicht mehr am Automaten anzubieten. Am Schalter kann man sie nur noch kaufen, wenn man eine Handynummer oder eine E-Mail-Adresse hinterlegt. Da werden einfach Leute von günstigen Zugtickets ausgeschlossen. Das sind Bereiche der Grundversorgung, die für alle Menschen, die hier leben, gewährleistet sein müssen.

Welche Menschen und wie viele betrifft das Problem? Fünf bis sechs Prozent wären auch schon mehrere Millionen.

Es betrifft viel mehr Menschen. Denn diese fünf bis sechs Prozent sind die Offliner, also Menschen in Deutschland, die noch nie im Internet gewesen sind. Das ist nur ein ganz kleiner Teil der Menschen, die von Digitalzwang betroffen sind. Es gibt zusätzlich Menschen, die aus verschiedenen Gründen zum Beispiel kein Smartphone haben wollen oder bestimmte Dienste nicht benutzen können. Da sprechen wir auch darüber, dass viele digitale Dienste nicht so barrierefrei sind, wie sie sein sollten. Wir sprechen über alte Menschen, die vielleicht an der einen oder anderen Stelle überfordert sind. Manchmal entsteht die Überforderung auch dadurch, dass ich nicht mehr überblicken kann, was es für Konsequenzen hat, wenn ich beispielsweise in der App der Deutschen Bahn meine Kreditkartennummer angebe. Und es geht auch um Menschen, die sich das alles nicht leisten können und vielleicht kein aktuelles Smartphone haben.

Wir finden: Es muss möglich sein, einen speziellen Dienst abzulehnen. Wir lehnen die Digitalisierung als solche nicht ab, aber wir möchten Wahlmöglichkeiten und im spezifischen Fall die Möglichkeit haben zu sagen: Nein, diese App kann oder will ich nicht nutzen.

Webseiten, Programme und Apps sind oft nicht barrierefrei und damit für Menschen mit Behinderung nicht bedienbar. Inwiefern bringt der Verein Digitalcourage diesen Aspekt in die Diskussion ein?

Wir haben nicht viel Erfahrung in dem Bereich, aber wir bekommen natürlich Einzelfallmeldungen von Leuten, die uns ihre persönliche Geschichte erzählen. Deshalb gehen wir davon aus, dass es sicherlich viele Leute gibt, die das betrifft.

Gehört es auch zum Digitalzwang, wenn ich Haushaltsgeräte nur noch über ein Display benutzen kann, dazu aber zum Beispiel wegen einer Seheinschränkung nicht in der Lage bin?

Es gibt, glaube ich, den etwas härteren Digitalzwang und den weniger harten Digitalzwang. Wir konzentrieren uns erst einmal auf die Grundversorgung. Da sehe ich besonders die Post oder die medizinische Versorgung.

Meinen Herd zu bedienen, ist auch nötig, wenn ich etwas kochen möchte.

Das stimmt, aber da gibt es wahrscheinlich mehrere Anbieter. Wenn jedoch alle Anbieter nur Lösungen anbieten, die nicht barrierefrei sind, ist das tatsächlich ein Problem. Wir bekommen auch Meldungen zu Haushaltsgeräten, die zum Beispiel eine Cloud-Verbindung herstellen wollen oder nur funktionieren, wenn man ein Online-Konto anlegt. Es gibt viele Grauzonen.

Ebenso erhalten wir viele Meldungen zu Supermarktrabatten: Wenn man die Supermarkt-App installiert, bekommt man den günstigeren Preis, sonst nicht. Es ist vielleicht kein echter Zwang, denn ich kann ja den höheren Preis zahlen. Aber aus gesellschaftlicher Perspektive finde ich das sehr fragwürdig, weil es gerade Menschen mit geringem Einkommen unter Druck setzt, diese App zu installieren und damit ihre Daten preiszugeben, ihre informationelle Selbstbestimmung aufzugeben. Das halte ich für einen nicht wünschenswerten Effekt.

Der Verein Digitalcourage

Der Verein Digitalcourage engagiert sich laut Informationen auf seiner Website seit 1987 für „eine lebenswerte Welt im digitalen Zeitalter“. Die Mitglieder sind technikaffin, setzen sich jedoch durch Aktionen und Kampagnen gegen Verletzungen des Datenschutzes und Digitalzwang ein.

Wer einen Fall von Digitalzwang melden möchte, hat dazu folgende Möglichkeiten:

  • Formular ausfüllen unter digitalzwangmelder.de
  • E-Mail schicken an mail@digitalcourage.de
  • Brief schreiben an:
    Digitalcourage e. V.
    Marktstraße 18
    33602 Bielefeld

Digitalcourage sammelt die Meldungen, und wenn ein Thema häufig genannt wird oder es einen besonders schweren Fall gibt, wird überlegt, wie der Verein dagegen vorgehen kann.

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