Herr Kaffenberger, einzelne Studierende können sagen, wie es ihnen persönlich während der Pandemie geht. Die Informations- und Beratungsstelle Studium und Behinderung hat vielleicht einen Überblick: Wie ging und wie geht es Studierenden mit Behinderung allgemein in der Corona-Zeit?
Viele Studierende mit Beeinträchtigung, aber auch alle anderen, haben viel mit depressiven Verstimmungen zu kämpfen, mit Einsamkeit in der digitalen Isolation. Auch Angst vor Verschuldung und solche Themen spielen eine Rolle. Von den Experten und von entsprechenden Einrichtungen und Stellen hören wir, dass es eine Zunahme an Depressionen, Angst- und Suchterkrankungen gibt bzw. befürchtet wird. Auch Studierende mit Beeinträchtigung geben überdurchschnittlich häufig an, dass sie sich durch die Pandemie gestresst fühlen, zum Beispiel durch die Infektionsrisiken, die Einschränkung von Kontakten, den Wegfall der Tagesstruktur. Das hatte schon gravierende Auswirkungen. Für manche hatte die Umstellung auf digitale Lehre aber auch Vorteile.
Sind Sie der Meinung, dass Studierende mit Behinderung während der Pandemie vergessen wurden?
Grundsätzlich vergessen wurden die Studierenden mit Behinderung nicht. Die Hochschulen haben sich bemüht, ihre Belange zu berücksichtigen. Es musste ja ganz schnell auf digital umgestellt werden, aber es gab schon das ernsthafte Bemühen, barrierefreie Formate und angepasste Nachteilsausgleiche anzubieten. Auch die BAföG-Förderung wurde ja verlängert, das Thema digitale Barrierefreiheit hat deutlich an Gewicht und Aufmerksamkeit gewonnen.
Auch erste Hochschulgesetze schaffen mehr Flexibilität, Stichwort Teilzeitstudium. Da gibt es durchaus positive Entwicklungen. Natürlich ist an vielen Stellen auch improvisiert worden, und man hat festgestellt, dass man sich mit Blick auf die Digitalisierung grundsätzlich einige Fragen stellen muss.
Für manche Studierende mit Behinderung war es vielleicht auch ein Vorteil, dass sie von zu Hause aus an Veranstaltungen teilnehmen konnten.
Genau. In den Rückmeldungen, die wir so bekommen, wird gesagt, dass es eine freiere Gestaltung des Tagesablaufs gab und man die Zeit effektiver einsetzen konnte. Wenn es zum Beispiel Studierenden mit chronischen Erkrankungen an einem Tag nicht so gutging, konnten sie sich ausruhen und die Vorlesung später nacharbeiten. Man kann mehr auf die eigenen Bedürfnisse achten, besser Arztbesuche und Ähnliches in den Tagesablauf integrieren. Der Fahrweg zur Uni, der für manche sehr umständlich und beschwerlich ist, fällt weg, sodass mehr Zeit ist für Dinge, die einem guttun.
Personen aus der Risikogruppe haben sich zu Hause sicherer gefühlt. Wenn sie sich in den öffentlichen Nahverkehr stürzen, ist das auch ein Infektionsrisiko. Schwierig war das Kennenlernen neuer Leute, gerade bei Erst-, Zweit- und Drittsemestern, die jetzt drei Semester im Ausnahmezustand verbracht haben. Das ist natürlich schwierig, an einem Hochschulort anzukommen und keine Leute kennenlernen zu können.
Auch Präsenz-Veranstaltungen sind ein Risiko für Studierende mit Behinderung, die einer Risikogruppe angehören. Wird darauf Rücksicht genommen?
Darauf haben wir als IBS gedrungen und uns an die Hochschulrektorenkonferenz gewandt. Die Hochschul-Landschaft ist wahnsinnig vielfältig, und wir können da keine allgemeingültigen Antworten geben, weil die Hochschulen damit unterschiedlich umgegangen sind. Einige bemühen sich, Regelungen zu finden. Zum Beispiel, indem sie auf die Präsenzpflicht verzichten und Lehrveranstaltungen auch digital anbieten. Das geht jedoch nicht für alle Prüfungs- oder Studienleistungen, zum Beispiel Labore oder praktische Übungen. Auch bestimmte schriftliche Prüfungen müssen in Präsenz stattfinden. Da ist es wichtig, dass die Hygienekonzepte strikt eingehalten werden.
Gibt es bei Prüfungen besondere Regelungen während der Corona-Zeit?
Da sind viele Hochschulen kreativ gewesen. Viele Sachen, die vor Corona nicht denkbar gewesen wären, zum Beispiel mündliche Prüfungen via Zoom abzuhalten, waren möglich. Viele finden das positiv, weil es mehr Flexibilität bietet. Andererseits war es ein zusätzlicher Stressfaktor, weil sich die Frage stellte, ob das alles technisch funktioniert. Teilweise war auch zusätzlicher Zeitdruck da, weil man die Bearbeitungszeit stärker begrenzt hat, um Täuschungsversuche zu verhindern. Da wurden viele Erfahrungen gesammelt, mit denen man jetzt weiter voranschreiten muss.
Das gilt auch für die Barrierefreiheit, die bei vielen Prüfungstools nicht gegeben war. Das Thema digitale Prüfungen hat durch die Pandemie jedenfalls an Dynamik gewonnen. Mit Blick auf Studierende mit Behinderung muss man jetzt genau hinschauen, dass keine neuen Nachteile entstehen.
Was haben denn blinde und sehbehinderte Studierende über die Zugänglichkeit von Lernsoftware und Videokonferenzen berichtet?
Das Bundeskompetenzzentrum Barrierefreiheit hat verschiedene Videokonferenzformate getestet, und was wir so hören, ist, dass Zoom von den Betroffenen relativ gut und barrierefrei nutzbar ist. Das gilt für andere Videokonferenzsysteme deutlich weniger.
Bei Lernsoftware und Prüfungstools wächst die Sensibilität, das Thema ist bewusster, aber es bleibt noch viel zu tun. Es gibt gute Ansätze, zum Beispiel an der Fachhochschule Dortmund: Dort gibt es eine Servicestelle für Studierende mit Behinderung. Die werden einbezogen, wenn es um die Weiterentwicklung der Management-Software Ilias geht (Anm.: freie Software zum Betreiben einer Lernplattform). Die Management-Systeme müssen zukünftig immer mehr barrierefrei werden.
Aber: Auch die Inhalte auf den Plattformen müssen barrierefrei sein, und das ist eine Herkules-Aufgabe – da reden wir von Hunderten von Lehrenden an den Universitäten, die Inhalte einstellen. Die muss man sensibilisieren und schulen, damit sie das auf dem Schirm haben. Es gibt auch Entwicklungen, den Lehrenden einfach zu handhabende Tools anzubieten, dass sie ihre Angebote barrierefrei gestalten und testen können, ob sie barrierefrei sind.
Gibt es eine Hochschule, die besonders vorbildlich war gegenüber Studierenden mit Behinderung in der Pandemie?
Da tue ich mich schwer, eine Hochschule hervorzuheben, die sich besonders hervorgetan hätte. Die Hochschulen, in denen es starke Beauftragte für Studierende mit Behinderungen gibt, die gut ausgestattet sind und vielleicht auch Service-Zentren haben für Barrierefreiheit, die sind natürlich besser durch die Pandemie gekommen als andere. In Hamburg, Dortmund und Bochum gibt es beispielsweise tolle Service-Einheiten für Studierende mit Behinderung. Es ist wichtig, dass es von unten nach oben entsprechende Kompetenzen und Beauftragte gibt, die sich starkmachen können.
Wird Corona das Studieren allgemein verändern?
Corona wird die Lehre an Hochschulen auf jeden Fall stark verändern. Ich glaube, dass es einen Schub gab für Entwicklungen, die auch vorher schon festzustellen waren. Die Form der Lehre wird sich verändern, sodass vielleicht auch stärker didaktisch begründet wird: Was findet in Präsenz statt und was digital? Wenn zum Beispiel in kleineren Lerngruppen gemeinsam etwas erarbeitet werden soll, ist Präsenz wichtig. Steht die reine Wissensvermittlung im Mittelpunkt, dann kann ich auch stärker auf digitale Angebote setzen, die ich asynchron wahrnehmen kann, also zu einer Zeit, zu der es mir besser passt.
Trotz allem: Die Hochschule als Lern- und Lebensort, wo auch viele Kooperationskompetenzen, soziale Kompetenzen erworben werden, setzt Präsenz stark voraus. Es ist wichtig, das zu erhalten. Zugleich wird es vielfältiger werden.