Schaltflächen, die sich mit Screenreader nicht lesen lassen, sind nur ein Beispiel für Barrieren, die sehbeeinträchtigte Menschen bei der Nutzung digitaler Angebote behindern. In einem Projekt des DBSV lernen Betroffene, wie sie Barrieren melden können, und prüfen Internetseiten auf Nutzungsfreundlichkeit. Rose Jokic und Markus Ertl leiten das Projekt. Was erreicht wurde und wie es weitergehen soll, berichten sie im Interview.

Vor drei Jahren hat das Projekt „Durchsetzungsbegleitung digitaler Barrierefreiheit“ begonnen. Worum geht es in dem Projekt?
Rose Jokic: In dem Projekt geht es unter anderem darum, digitale Barrieren zu melden, die auf Webseiten von öffentlichen Anbietern vorhanden sind. Wir sensibilisieren blinde und sehbehinderte Menschen in Schulungen und Workshops und zeigen ihnen, wie sie Barrieren melden können.
Ein Ziel des Projekts war es auch, öffentliche Stellen für das Thema digitale Barrierefreiheit zu sensibilisieren und ihnen Wissen darüber zu vermitteln. Inwiefern ist das gelungen?
Rose Jokic: Wir haben sehr viele Webseiten getestet und viele Barrieren gemeldet. Allein dadurch haben wir natürlich sensibilisiert. Denn wenn Menschen, die von Barrieren betroffen sind, die Barrieren selbst melden, ist das ein wesentlicher Schritt. Die gemeldeten Mängel wurden nicht alle behoben, aber viele der Betreiber von Webseiten öffentlicher Stellen, auf denen wir Barrieren gefunden haben, haben sich mit dem Thema befasst und zum Beispiel ihre Erklärungen zur Barrierefreiheit aktualisiert.
Was sind typische Barrieren?
Rose Jokic: Typische Barrieren können fehlende Alternativtexte bei Grafiken oder fehlende Beschriftungen bei Schaltflächen sein. Blinde Menschen, die einen Screenreader benutzen, hören manchmal auf Webseiten „unbeschrifteter Schalter“. Das ist eine Barriere, weil man dann nicht weiß, was passiert, wenn man den Schalter betätigt. Auch Captchas, eine Spam-Abwehrfunktion, stellen eine Barriere dar, wenn sie visuell gelöst werden müssen. Screenreader können solche Captchas nicht auslesen.
Wie war die Resonanz auf die Workshops zum Melden digitaler Barrieren bei öffentlichen Stellen?
Markus Ertl: Die Resonanz war sehr gut. Wir hatten insgesamt rund 170 Teilnehmer in über 30 Workshops. Die Workshops laufen noch, jeder ist herzlich eingeladen teilzunehmen. Den Rückmeldungen zufolge fühlten sich die Beteiligten nach dem Workshop sicherer. Sie haben gelernt, dass das Melden von Barrieren strukturiert ablaufen sollte. Man sollte wissen: Was ist eine Barriere? Welche Barrieren gibt es? Und wie melde ich sie wohin?
Das Einhalten der Vorgaben für Barrierefreiheit allein gewährleistet nicht automatisch die Nutzungsfreundlichkeit, häufig Usability genannt. Rose, kannst du kurz mit einem Beispiel erklären, wie sich fehlende Nutzungsfreundlichkeit bemerkbar macht?
Rose Jokic: Fehlende Nutzungsfreundlichkeit kann sich sogar auf barrierefreien Webseiten bemerkbar machen, zum Beispiel wenn man grafische Inhalte ansteuern muss, die schlechte Kontraste haben. Oder zum Beispiel Cookie-Banner, die andere Inhalte visuell überlagern. Bei Cookie-Bannern erkennen sehbehinderte Menschen oft auch nicht, wo der Schalter ist, um Cookies zu akzeptieren oder abzulehnen. Solche Dinge können bei der Nutzung stören, auch wenn sie barrierefrei gestaltet sind.

Die Nutzungsfreundlichkeit habt ihr im Projekt mit einem Usability Check unter die Lupe genommen.
Rose Jokic: Wir haben zunächst einen sogenannten Usability Pool ins Leben gerufen. Dem Pool können blinde und sehbehinderte Menschen beitreten, die Webseiten und Apps auf ihre Nutzungsfreundlichkeit testen wollen – und zwar mit den Hilfstechnologien, die sie im Alltag nutzen. Das kann ein Smartphone mit Sprachausgabe, eine Vergrößerungssoftware oder ein Screenreader sein. Aus den Angaben, die man uns zu den eigenen Hilfsmitteln macht, erstellen wir Profile. Passend zu den Profilen vermitteln wir die Testerinnen und Tester bei Anfragen von Einrichtungen oder Unternehmen, die sich einem Usability Check unterziehen wollen.
Wie sieht ein Usability Check aus?
Rose Jokic: Bei einem Usability Check testet zum Beispiel eine sehbehinderte Nutzerin aus dem Pool eine Webseite mit ihrer Hilfstechnologie. Sie muss beispielsweise bestimmte Aufgaben innerhalb einer Stunde lösen. Aufgaben wie: „Versuchen Sie, die Suchfunktion dieser Webseite zu nutzen. Geben Sie folgende Suchbegriffe ein. Wie finden Sie die Ergebnisse? Können Sie die Ergebnisse mittels Schaltflächen oder Überschriften ansteuern?“ Eine zweite Aufgabe könnte sein, ein Formular auf der Webseite auszufüllen.
Warum ist ein solches Projekt notwendig, wo doch gesetzlich vorgeschrieben ist, dass digitale Anwendungen der öffentlichen Hand barrierefrei zugänglich sein müssen?
Markus Ertl: Wir wünschen uns auch, es würde von allein passieren. Barrierefreiheit ist für öffentliche Stellen des Bundes eigentlich seit 2006 verpflichtend. Bei vielen ist sie jedoch noch nicht umgesetzt. Es hängt ab vom Bewusstsein, von Ressourcen und vom Know-how, wie man Barrierefreiheit herstellt. Ich erlebe oft, dass für neue Angebote zwar Barrierefreiheit vereinbart war, aber der Dienstleister nicht gut gearbeitet hat.
Es gibt also viele Gründe, wieso das Projekt notwendig ist. Es müssen auch noch mehr Unterseiten überprüft werden, denn die Tests, die hier gemacht werden, werden ja nicht für das komplette Web-Angebot eines Unternehmens gemacht, sondern erst einmal für fünf Unterseiten. Daraus ergibt sich ein Bild, aber ein Rückschluss auf andere Unterseiten ist nur bedingt möglich. Deshalb ist es wichtig, die öffentlichen Stellen durch unser Projekt noch mehr zu beraten, und die Betroffenen zu befähigen, Barrieren zu melden. Nur so wird für die öffentlichen Stellen sichtbar, dass die Leute das Angebot wünschen und dass es noch Barrieren gibt, die beseitigt gehören.
Wie wird das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, das Ende Juni in Kraft tritt, dem Projekt und den damit verbundenen Zielen Auftrieb geben?
Markus Ertl: Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz hat meines Erachtens noch mehr Strahlkraft auf die Barrierefreiheit, als es die EU-Richtlinie für die Barrierefreiheit von öffentlichen Online-Angeboten hatte. Denn die Marktüberwachungsbehörde kann nun Strafen verhängen. Dadurch wird das Thema Barrierefreiheit mehr Bedeutung gewinnen. Das wird nicht von jetzt auf gleich passieren. Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz wurde 2018 beschlossen, und die Dynamik setzt erst jetzt ein: Jeder möchte noch schnell seinen Online-Shop oder sein Online-Banking-Portal barrierefrei gestalten. Da darf man auch mal fragen: Wieso hat man nicht früher begonnen, das eine oder andere Angebot barrierefrei zu machen? Dann gäbe es jetzt keinen Druck.
Die Marktüberwachungsstelle überwacht also die Einhaltung der digitalen Barrierefreiheit und kann auch Geldstrafen verhängen?
Markus Ertl: Ja. Wir, die Betroffenen, werden nicht auf die einzelnen Privatunternehmen zugehen, sondern können Mängel über die Marktüberwachungsstelle melden. Die Bundesländer haben sich zum Glück entschlossen, eine zentrale Marktüberwachungsstelle einzurichten. Sie wird ihren Sitz in Magdeburg, Sachsen-Anhalt, haben und soll in alle Bundesländer hineinarbeiten.
Wie geht es weiter mit dem Projekt?
Rose Jokic: Wir haben einen weiteren Förderantrag bei der Aktion Mensch eingereicht, denn das Projekt wird von Aktion Mensch und von der Techniker Krankenkasse gefördert. Wir gehen davon aus, dass es nahtlos weitergehen kann und wir nach wie vor Workshops zum Melden von digitalen Barrieren anbieten können. Der Bedarf ist da, es sind noch genug Barrieren vorhanden.
Wir möchten auch in den Landesvereinen darüber informieren, welche Schritte getan werden können, um darauf aufmerksam zu machen, dass auch die Privatwirtschaft Barrieren beseitigen muss. Dazu werden wir Informationsmaterial zur Verfügung stellen und Schulungen anbieten.
Bei einer Projektverlängerung wird es neue Termine für die Workshops „Barrieren melden“ geben.
Wer Interesse an den Workshops hat, kann bereits jetzt an folgende E-Mail-Adresse schreiben: digital-barrierefrei@dbsv.org. Der Absender, die Absenderin wird dann informiert, wenn neue Termine anstehen.
Bei Fragen zu Usability Checks lautet die E-Mail-Adresse: usability@dbsv.org