„Aufklären und sensibilisieren”
Interview mit Stefan Kiefer

· Ute Stephanie Mansion

Stefan Kiefer vor verschwommenem Hintergrund: Er hat kurzes, seitlich gescheiteltes Haar, trägt eine dunkle Brille, ein weißes Hemd und lächelt.
Stefan Kiefer  ·  Bild: Rul Camilo

Herr Kiefer, der jüngste Sportentwicklungsbericht des Bundesinstituts für Sportwissenschaft zeigt: Nur in sieben Prozent der über 87.000 Sportvereine in Deutschland gibt es Angebote für Menschen mit Behinderungen, also in 6.300 von 87.000 Vereinen. Hat Sie das überrascht?

Nein, leider hat mich das nicht überrascht, denn diese Entwicklung – und da muss ich wieder „leider“ sagen – zeigt sich seit vielen Jahren. Die Corona-Pandemie hat diesen Trend verstärkt, ebenso die aktuelle Flüchtlingsbewegung, die Wirtschaftskrise und nicht zuletzt der russische Angriffskrieg auf die Ukraine: Das alles hat die Gesellschaft und die Politik vor enorme Herausforderungen gestellt, und dadurch sind andere Themen teilweise in den Hintergrund geraten. Das gilt auch für die Entwicklungen im Behindertensport. Aber wir werden als DBS nicht müde, unsere Stimme für den Behindertensport zu erheben, um positive Entwicklungen einzufordern.

Wie kann der Deutsche Behindertensportverband dazu beitragen, dass Vereine sich viel mehr als bisher für Menschen mit Behinderungen öffnen?

Der Deutsche Behindertensportverband als Dach seiner 17 Landes- und zweier Fachverbände hat den übergeordneten Auftrag, bestmögliche Rahmenbedingungen zu schaffen, damit die Verbände und die Vereine ihre Aufgaben im Interesse der Menschen mit Behinderungen umsetzen können. Außerhalb der eigenen Strukturen hat der Behindertensport in Deutschland leider immer noch nicht den Stellenwert, der ihm zusteht und den wir als DBS benötigen, damit Inklusion im und durch den Sport im gesellschaftlichen Alltag selbstverständlich gelebt wird. Darauf müssen wir immer wieder hinweisen und die Besonderheiten sowie die Interessen des Behindertensports immer wieder einfordern. Gleichzeitig muss es uns noch besser gelingen, die vielen Vereine bei ihren vielfältigen Aufgaben zu stärken.

Studien haben auch gezeigt, dass Menschen mit Behinderungen unterdurchschnittlich oft Sport betreiben. Abgesehen von fehlenden Angeboten in den Vereinen: Wie können die Menschen selbst motiviert werden, mehr Sport zu treiben?

Diese wichtige Aufgabe müssen alle gesellschaftlichen Kräfte nachhaltig angehen: die Politik, die Wirtschaft und der Sport in seiner Gesamtheit. Wir müssen einerseits die Vereine weiter darin bestärken, welch großen Mehrwert der Sport für Menschen mit Behinderungen hat und welchen großen gesellschaftlichen Mehrwert die Vereine mit ihren ehrenamtlich Tätigen und ihrem Vereinsleben in diesem Bereich leisten. Andererseits dürfen wir die Verbände und die Vereine bei der Umsetzung nicht überfordern, denn auch hier bedarf es der Unterstützung von Politik und Wirtschaft. Dieser gesamtgesellschaftliche Auftrag darf nicht auf dem Rücken der Ehrenamtlichen in den Vereinen ausgetragen werden. Es braucht Anreize und größere Akzeptanz für dieses wichtige ehrenamtliche Engagement.

Das Bild zeigt einen Mann und eine Frau im Fitnessstudio.
DBSV/A. Friese
Das Bild zeigt vier ältere Frauen bei der Gymnastik.
DBSV/A. Friese

Genauso wichtig ist aber auch das eigene Umfeld: Familienmitglieder, Freundinnen und Freunde. Die Menschen müssen wissen, wo es Sportangebote gibt. Da gibt es zum Beispiel Hilfsmittel wie die Plattform Parasport.de oder das Handbuch Behindertensport. Im September werden wir als DBS darüber hinaus bundesweit erstmals die „Sportwoche für alle“ umsetzen, um die bestehenden Angebote und Möglichkeiten bekannter zu machen. Aber das sind nur Beispiele, denen noch viele weitere folgen müssen.

Was erwarten Sie konkret von Politik und Wirtschaft?

Es braucht flächendeckend barrierefreie Sportstätten. Es braucht eine Hilfsmittelversorgung, die auch Menschen mit Prothesen, mit Rollstühlen oder mit anderen Hilfsmitteln die Möglichkeit bietet, den Sport, den sie betreiben möchten, umzusetzen. Und es braucht personelle Unterstützung, zum Beispiel Guides für Menschen mit Sehbehinderung, wenn Para-Sportarten wie Leichtathletik, Triathlon oder Ski Alpin umgesetzt werden sollen. Dafür müssen bestehende Guide-Netzwerke ausgebaut werden. Auch hier brauchen wir viel größere Aufmerksamkeit für diese Besonderheiten des Para-Sports. Nur wenn die Menschen wissen, dass es teilweise Guides bedarf, damit Menschen mit Behinderungen an bestimmten Sportarten teilnehmen können, können sie auch helfen. Wir müssen also aufklären und sensibilisieren, und dafür brauchen wir wiederum die Medien und die Gesellschaft.

Ist das auch ein Appell an Ehrenamtliche, die sich zur Verfügung stellen könnten?

Das ist ein Appell an uns alle, auch an mich, sich als Guide zur Verfügung zu stellen. Wir alle haben die Möglichkeit, uns ausbilden zu lassen, und insofern geht dieser Appell tatsächlich an uns alle. Ich muss nicht zwingend Spitzensportler sein, um diese Aufgabe zu übernehmen. Da gibt es niedrigschwellige Angebote, zum Beispiel im Trainingsbereich. Manchmal ist es schon ausreichend, die Menschen zur Sportstätte zu bringen, für die das eigenständig nicht möglich ist.

Gibt es in den Vereinen auch Übungsleiterinnen und -leiter mit Behinderungen, die ja als Vorbild dienen könnten für Menschen mit Behinderungen, mehr Sport zu machen?

Mir fehlt der Überblick, wie viele Menschen mit Behinderungen als Übungsleiter tätig sind, aber es gibt viele Sportarten, bei denen Para-Sportlerinnen und Para-Sportler am Ende ihrer Karriere die Rolle des Übungsleiters, der Übungsleiterin übernehmen.

Inwiefern hilft der Deutsche Behindertensportverband Vereinen, die noch nichts mit Inklusion zu tun haben?

Es gibt eine Vielzahl von Anlaufmöglichkeiten: beim Deutschen Olympischen Sportbund, bei den Landessportbünden und auch bei den Landesverbänden im Deutschen Behindertensportverband. Dort gibt es eine große Expertise in Fragen, wie der Breitensport und die Vereine sich im Themenfeld Inklusion noch besser aufstellen. Das ist eine wichtige Aufgabe, die wir gemeinsam verfolgen.

Im Juni werden in Berlin die Special Olympics World Games ausgetragen, im September gibt es in Düsseldorf die Invictus Games, bei denen Menschen mit Behinderungen antreten, die in einem Krieg verletzt wurden. Inwiefern können solche Veranstaltungen dazu genutzt werden, um auf fehlende Sportangebote für Menschen mit Behinderungen aufmerksam zu machen?

Das sind große Veranstaltungen, und sie werden zu einer erhöhten Aufmerksamkeit für den Para-Sport in der Öffentlichkeit beitragen. Sie eignen sich auch dazu, Inklusion im Sport zu thematisieren und Menschen mit Behinderungen die Bühne zu geben, die sie verdienen. Special Olympics Deutschland zum Beispiel erreicht die Öffentlichkeit derzeit in bemerkenswerter Weise, und das hilft uns allen bei unseren Aufgaben. Menschen aus vielen Nationen kommen sowohl bei den World Games als auch bei den Invictus Games zusammen, und es besteht damit die Möglichkeit, die Gesellschaft und die Politik zu sensibilisieren. Diese Events liegen zwar nicht in der Verantwortung des DBS, aber wir sind mit den Partnerorganisationen gut vernetzt und werden dort die Gelegenheit nutzen, auf die Belange, die ich beschrieben habe, aufmerksam zu machen.

Was sind die nächsten größeren Sportereignisse, bei denen der Deutsche Behindertensportverband die Hauptfunktion hat?

Die Hauptfunktion hat er zum Beispiel bei einer Reihe von Deutschen Meisterschaften, die bei uns in Deutschland stattfinden: Wir haben Europameisterschaften und eine Weltmeisterschaft in der Para-Leichtathletik vor Augen, die im Sommer in Paris stattfinden wird. Da werden wir mit Blick auf die Paralympischen Spiele in Paris im nächsten Jahr besonders aktiv sein. Und so gibt es eine Vielzahl von Meisterschaften im Leistungssport, die wir darüber hinaus als DBS begleiten oder selbst durchführen.

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