Dr. Rolf Schmachtenberg, Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales, spricht im Interview über die Herausforderungen in der Inklusion von Menschen mit Behinderungen in Deutschland. Er erläutert die Fortschritte und politischen Hürden bei der Umsetzung aktueller Gesetzesvorhaben und blickt auf die notwendigen Schritte für eine barrierefreie Zukunft.
Herr Dr. Schmachtenberg, im Oktober waren Sie wieder zu Gast bei der Verbandsratssitzung des DBSV und haben sich mit uns über die aktuellen behindertenpolitischen Vorhaben der Bundesregierung ausgetauscht. Welche Bedeutung hat der DBSV für Sie?
Eine große. Es ist ein starker Verband, gerade mit seinen Landesverbänden und weiteren Mitgliedsorganisationen. Damit deckt er ein breites Spektrum ab. Der Verband ist aus meiner Sicht besonders gut aufgestellt, auch wenn es darum geht, klare Meinungen zu bilden und in den politischen Prozess einzubringen. Darum komme ich gerne dorthin und nehme immer etwas mit. Dieses Mal war zum Beispiel der Hinweis für mich wichtig, dass die Reform der Kinder- und Jugendhilfe auch für den DBSV eine große Rolle spielt. Dass dieses Thema so im Zentrum der Überlegungen beim DBSV steht, war mir vorher nicht klar.
Im vergangenen November wurde Artikel 3 Absatz 2 unseres Grundgesetzes 30 Jahre alt: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Die UN Behindertenrechtskonvention gilt in Deutschland seit 15 Jahren. Wo stehen wir bei der gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit Behinderungen?
Irgendwo mittendrin – so wie es ja zur Inklusion passt, wenn man Inklusion ein bisschen umgangssprachlich übersetzt mit „mittendrin im Leben“. Das Grundgesetz und die UN Behindertenrechtskonvention waren große Fortschritte, die wir über viele Jahre errungen haben. Natürlich ist einiges passiert: Das Behindertengleichstellungsgesetz wurde eingeführt und weiterentwickelt, ebenso das SGB IX. Und mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz wollen wir auch stärker die Barrierefreiheit im privaten Bereich angehen. Es ist einiges zu tun, dafür sprach ja auch die Agenda dieser Legislaturperiode. Wir würden gerne weiter vorankommen mit der Barrierefreiheit im privaten Bereich. Da ist noch deutlich Luft nach oben.
Das Motto des Bundesbeauftragten für die Belange von Menschen mit Behinderungen, Jürgen Dusel, lautet: „Demokratie braucht Inklusion.“ Auf beides, die Demokratie und die Inklusion, erleben wir aktuell erschreckende Angriffe. Welchen Handlungsauftrag leiten Sie aus dem Auftrag „Demokratie braucht Inklusion“ ab?
Ich finde diesen Slogan wirklich gut, er ist auch in die andere Richtung – Inklusion braucht Demokratie – wahr und zutreffend. Eine Demokratie kann man immer daran messen, ob sie ihre Minderheiten schützt. Eine lebendige, beteiligungsbreite Demokratie ist der beste Weg gegen Diskriminierung. Eine Gesellschaft, die Inklusion inhaliert hat, lebt einen guten, wertschätzenden und unterstützenden Umgang mit allen Formen von Minderheiten. Es ist wichtig, die Inklusion voranzubringen, weil man damit auch eine Demokratie voranbringt, die in der Lage ist, auf die Minderheiten zu achten.
In der Behindertenpolitik hatten wir zuletzt den fortschrittlichsten Koalitionsvertrag. Versprochen wurde deutlich mehr Barrierefreiheit und Nicht-Diskriminierung im Alltag. Dazu sollten insbesondere das Behindertengleichstellungsgesetz, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz und das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz weiterentwickelt werden. Passiert ist nichts von alldem. Warum war es denn so schwierig, die inklusionspolitischen Vorhaben umzusetzen?
Diese Koalition ist mit viel Ehrgeiz angetreten. Es ist eine Koalition aus sehr unterschiedlichen Parteien, die dachten, einen gemeinsamen Kern gefunden zu haben, gerade bei Themen wie Inklusion oder dem Umgang mit Minderheiten. Der Koalitionsvertrag drückte große Ambitionen und Enthusiasmus aus. Im ersten Jahr sind wir noch relativ gut vorangekommen. Aber spätestens im zweiten Jahr setzten reibungsvolle Prozesse ein, die, das muss ich zugestehen, auf gesetzgeberischer Ebene nicht mehr abgeschlossen werden. Auf der untergesetzlichen Ebene haben wir jedoch einiges vorangebracht, insbesondere die Bundesinitiative für Barrierefreiheit. Auch der Entwurf zur Weiterentwicklung des Behindertengleichstellungsgesetzes mit der Erweiterung der angemessenen Vorkehrungen auf den privaten Bereich, also den gesamten Handel, Geschäfte, Handwerk, Dienstleistungen, ist ein großes Werk. Es wurde komplett ausgearbeitet.
Außerdem hatten wir einen intensiven Diskurs mit den Werkstätten und deren Beschäftigten über ihre Weiterentwicklung. Es ist ein Spannungsfeld: Werkstätten sind eigentlich exkludierend, aber andererseits verteidigen viele Menschen, die in den Werkstätten arbeiten, diese Orte. Sie sind sehr erschrocken, wenn der Gedanke geäußert wird, man könnte die Werkstätten auflösen. Ich glaube, wir haben jetzt gute Kompromisse für eine Weiterentwicklung hin zu einem inklusiven Arbeitsmarkt gefunden.
Ein Beispiel ist der Vorschlag für eine Regelung, dass man die Nachteilsausgleiche bei der Rente künftig mitnehmen könnte wie im Rucksack. Wir haben gleichzeitig einen ganz guten Ansatz gefunden, wie wir die Einkommenssituation verbessern können ohne zu Fehlanreizen im Verhältnis zum allgemeinen Arbeitsmarkt zu kommen.
Das ist alles erarbeitet. Ich kann jetzt nur hoffen, dass die nächste Koalition diese Arbeiten aufgreift und zügig auf den Weg bringt. Wenn wir eine Regierung haben werden, die inklusionspolitisch offen ist, wird sie es gut finden, dass es diese Vorarbeiten gibt. Sie wird sie nochmal durchschauen und könnte es dann auf den Weg bringen.
In der jetzigen Legislaturperiode wurde die Bundesinitiative Barrierefreiheit gestartet. Können sie kurz erläutern, was das ist? Gibt es erste Ergebnisse, und wie könnte es damit weitergehen?
Wir haben einen Prozess aufgesetzt, der eine ganz neue Qualität hat, weil wir sehr systematisch arbeiten. Innerhalb der Bundesregierung haben wir ein Wechselspiel zwischen Fachebene und Staatssekretärsebene, und dazwischen gibt es die Beteiligung über den Beirat. Wir haben eine breite Beteiligung der Betroffenenverbände, der Länder, der Dienstleister und von Fachleuten. Es geht um die Felder Mobilität, Gesundheit, Wohnen und Digitales. Gerade das Digitale ist herauszuheben: Es kann Barrieren beseitigen. Doch manchmal schafft es sie auch. Ich glaube, gerade für Menschen mit Sehbehinderung gibt es in diesem Bereich positive und negative Erfahrungen. Die nächste Software erscheint, und wieder ist alles voller Barrieren. Hinzu kommen finanzielle und andere Zugangsbarrieren, die Menschen ausschließen. So entsteht eine digitale Teilgesellschaft getrennt von denen, die nicht dabei sind.
Wir haben mit der Bundesinitiative ein gutes Format aufgesetzt, um diese Fragen sehr systematisch zu behandeln. Wir werden einen Zwischenbericht vorlegen, um auf dieser Basis weitere Schwerpunkte zu setzen. Im Bereich barrierefreier Tourismus sind wir schon gut vorangekommen. Auch mit dem Diskurs beim barrierefreien Wohnen werden wir gut vorankommen. Wenn ich an die Bahn denke – da sind noch dicke Bretter zu bohren, aber wir haben jetzt ein System geschaffen, mit dem man langfristig planen und arbeiten kann.
Vor acht Jahren wurde das Bundesteilhabegesetz verabschiedet. An seiner Entstehung waren Sie maßgeblich beteiligt. Wir blicken Sie auf die Umsetzung?
Es ist wie immer ein gemischtes Bild. Das Bundesteilhabegesetz ist in mehreren Stufen umgesetzt worden. Im Kern ging es darum, die Eingliederungshilfe aus dem Buch der Sozialhilfe heraus in das Buch der Teilhabe einzugliedern. Eng damit verbunden ist das Verständnis, dass es um Nachteilsausgleiche geht. Dementsprechend gibt es eine weitgehende Befreiung von Regelungen der Einkommens- und Vermögensanrechnung. Besonders herauszuheben ist, dass es keine Anrechnungen des Partnereinkommens mehr gibt. Das heißt, die allermeisten in Deutschland bekommen die Nachteilsausgleiche der Eingliederungshilfe nun ohne diese Anrechnungen.
Daneben haben wir die Stärkung von Mitbestimmung durch Frauenräte und Werkstatträte. Es gibt eine Verbesserung beim Arbeitsfördergeld. Wir haben das gesamte Teilhaberecht, besonders die Koordination, neu aufgestellt. Hier ist besonders die Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung hervorzuheben. Es gibt etwa 500 Beratungsstellen mit rund 1.800 Menschen, die dort arbeiten, überwiegend Peers. Wir haben damit Neuland betreten und es jetzt sehr gut etabliert.
Die personenzentrierte Förderung muss noch weiter vorangetrieben werden. Beim Bundesteilhabegesetz müssen wir beobachten, was die Verwaltung nun damit macht. Wir haben deswegen intensive Begleitprozesse mit den Ländern aufgesetzt.
Wie sieht Ihre mittel- und langfristige Vision für eine barrierefreie, inklusive Gesellschaft in Deutschland aus?
Meine Vision ist, dass jeder Mensch in Deutschland selbstbestimmt leben kann. Wenn ihm Barrieren begegnen, soll er dabei unterstützt werden, diese zu überwinden. Das beginnt bei einer guten Hilfsmittelversorgung, geht über barrierefreie Wohnungen, Zugänge zur Ausbildung und Arbeit. Auch vor dem Hintergrund des demografischen Wandels, glaube ich, sind die Chancen dafür aber gar nicht so schlecht. Unsere Gesellschaft wird sich noch mehr anstrengen und mehr Zugangsmöglichkeiten für alle schaffen.