Alarmierende Zeichen
Interview mit Dr. Thomas Krämer

· Leonie Koll

Der Verbandsrat des DBSV traf sich im Oktober in Berlin zu seiner Herbsttagung. Bewegt diskutiert wurde die Schließung eines der beiden Häuser des Aura-Hotels in Boltenhagen. Darüber und über weitere Themen, die erörtert wurden, sprach Leonie Koll mit dem Vizepräsidenten des DBSV, Dr. Thomas Krämer. Er erklärt, warum die begonnene Legislatur des europäischen Parlaments ihm Sorgen bereitet.

Thomas Krämer hat kurzes dichtes dunkleres Haar. Er trägt ein dunkles Sakko und ein weißes Hemd. Sein Blick ist freundlich lächelnd zur Kamera gerichtet.
Dr. Thomas Krämer, Vize-Präsident des DBSV  ·  Bild: DBSV

Herr Dr. Krämer, der Verkauf des Aura-Hotels in Boltenhagen hat bei der Verbandsratssitzung viele Menschen emotional bewegt. Wie kann und konnte der DBSV den Landesverein Mecklenburg-Vorpommern und das Aura-Hotel unterstützen?

Es bewegt die Menschen, dass das Aura-Hotel in der Form, wie sie es seit vielen Jahren kennen, nicht mehr weiterbetrieben wird. Der Verkauf eines Hauses ist letztlich der finale Schritt einer langen Reihe von Ereignissen. Als uns diese Nachricht erreicht hat, habe ich mich entschieden, direkt für zwei Tage nach Rostock zu fahren und mich detailliert zu informieren. Wir wollten fundiert mitsprechen und überlegen, wie wir vorgehen.

In den Gesprächen wurde schnell eine einheitliche Sichtweise herausgearbeitet: Der Weiterbetrieb des Hotels in Boltenhagen würde den Blinden- und Sehbehinderten-Verein Mecklenburg-Vorpommern in die Insolvenz treiben. Ich habe tiefe Einblicke in die prekäre finanzielle Situation bekommen. Wir haben auch über die Probleme der baulichen Substanz, besonders am Gebäude „Seeschlösschen“, gesprochen. Das geht los mit einem Baum, der in einem Zimmer immer wieder durch den Fußboden wächst, es geht über die marode Wasser- und Elektroinstallation hin zu erforderlichen Maßnahmen beim Brandschutz. Das zweite Gebäude namens „Waldfrieden“ muss auch renoviert werden, die Bausubstanz ist aber weniger problematisch. Dazu kommt, dass es im Grunde keine Rücklagen gibt.

Vor diesem Hintergrund mussten wir feststellen, dass die Kosten für den Landesverein Mecklenburg-Vorpommern allein nicht tragbar sind. Die anderen Landesvereine sind auch nicht bereit oder in der Lage, das Aura-Hotel in Boltenhagen finanziell zu unterstützen. Da hilft auch kein Kredit. Das Haus würde nicht erwirtschaften, was wir investieren müssten.

Immer wieder wurde die Frage an den DBSV herangetragen, ob er finanziell einspringen könnte. Wenn man allerdings Paragraph 2 der DBSV-Satzung, die Ziele und Aufgaben des Verbands, betrachtet, wird man feststellen, dass der DBSV auf die Interessenvertretung, auf das Zusammenführen von Landesverbänden und auf das Organisieren der blinden und sehbehinderten Menschen in Deutschland ausgerichtet ist. Der Betrieb eines Hotels gehört nicht dazu.

Schlussendlich erhofft man sich jetzt, vom Erlös aus dem Verkauf des großen Gebäudes „Seeschlösschen“ das zweite Gebäude, den „Waldfrieden“, erhalten zu können. Damit könnte das Urlaubsdomizil Boltenhagen für blinde und sehbehinderte Menschen zumindest in Teilen erhalten bleiben.

Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) verpflichtet von Juni 2025 an Hersteller von Produkten und Dienstleister dazu, ihre Angebote barrierefrei zur Verfügung zu stellen. Wie kann das Gesetz durchgesetzt werden?

Erst einmal ist es ein großer Erfolg, dass das BFSG so beschlossen wurde. Natürlich sehen wir immer Verbesserungsbedarf. Wir sind glücklich, dass es von den Ländern den Entwurf eines Staatsvertrags für eine zentrale Marktüberwachungsstelle gab. Der DBSV hat sich dafür schon immer ausgesprochen. Die Überwachungsstelle soll in Sachsen-Anhalt sitzen und 99 Mitarbeiter beschäftigen. Mit ihnen wird es möglich sein, diese Aufgaben annähernd stringent durchzuführen und nicht immer nur Stückwerk zu liefern. Jetzt sollten alle Landesvereine an dem dafür eingerichteten Beteiligungsverfahren der Länder teilnehmen. Dazu möchten wir sie motivieren.

Auf EU-Ebene wurde im vergangenen Jahr ein neues Parlament gewählt. Bei der Verbandsratssitzung wurde über die damit einhergehenden Veränderungen gesprochen. Worauf können wir uns einstellen?

Leider hat sich, wie das ja überall zu beobachten ist, eine Bewegung Richtung rechts auch auf europäischer Ebene manifestiert. Die Europäische Blindenunion, die EBU, ist nun dabei, die Sache neu zu strukturieren und die deutschen Abgeordneten dazu zu bewegen, wieder der Disability Intergroup im Europäischen Parlament beizutreten. Was uns allerdings alarmiert hat: In der jetzigen Legislatur wird es kein Kommissariat für Gleichstellung mehr geben. Das ist aus unserer Sicht ein Rückschritt, der auch die Arbeit der Europäischen Kommission untergräbt, die im Bereich Gleichstellung bisher gut vorangekommen ist. Viele Dinge, von denen wir heute profitieren, wurden über die europäische Ebene durchgesetzt.

Hinzu kommt, dass Fragen, die Menschen mit Behinderung betreffen, in der Liste der politischen Prioritäten der Europäischen Kommission für den Zeitraum von 2024 bis 2029 schlicht nicht mehr auftauchen. Das ist keine gute Situation. In der Vergangenheit ist es uns gelungen, mit der EBU staatenübergreifend Dinge zu erreichen. Es wäre schade, wenn das abreißen würde.

Der DBSV freut sich darauf, in diesem Jahr das 200-jährige Bestehen der Brailleschrift zu feiern. Das Geburtsdatum von Louis Braille am 4. Januar setzt den Anfang für ein Jahr voller Aktionen mit Beteiligung der Landesvereine. Welche Bedeutung hat die Schrift für blinde und sehbehinderte Menschen und für Sie persönlich?

Die Brailleschrift hat die Blindenbildung überhaupt erst ermöglicht. Vorher hat man mit allerhand anderen Schriftformen experimentiert. Erst die Brailleschrift hat einen flüssigen Lesefluss und ein räumliches Textbild ermöglicht. Heutzutage fällt das Bearbeiten eines Textes mit Braille am Computer natürlich viel leichter. Ohne Braille wäre es beispielsweise schwierig bis unmöglich für mich, eine Präsentation vorzubereiten, wie es im beruflichen Umfeld mitunter erforderlich ist. Deswegen ist heute diese relativ alte Schrift noch absolut aktuell.

Auch wenn wir den Geburtstag von Louis Braille (Anm. d. Red.: 4. Januar 1809) genau benennen können, gibt es kein Erfindungsdatum der Brailleschrift. Darum heben wir kein einzelnes Datum für das Jubiläum hervor, sondern wollen das ganze Jahr über viele Menschen erreichen. Wir haben festgestellt, dass die Brailleschrift auch für diejenigen faszinierend ist, die sie eigentlich nicht brauchen. Man kommt über die Brailleschrift immer mit sehenden Menschen ins Gespräch. So können wir auch andere Anliegen auf den Tisch bringen.

Das Jubiläum möchten wir nutzen, um auf verschiedenen Ebenen zu sensibilisieren, sowohl unsere Mitmenschen als auch politische Akteure. Ich lade alle ein, bei den Veranstaltungen mitzumachen. Es ist für viele etwas dabei!

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