„Schieben, schubsen, drängeln oder so führe ich blinde und sehbehinderte Menschen“: Beim Louis Braille Festival drehte sich in einem Workshop mit diesem Titel alles um die Techniken, die eine sehende Person anwenden kann, um eine blinde oder sehbehinderte Person zu führen. Sichtweisen-Redakteurin Lisa Mümmler berichtet, warum dieses Wissen auch für Menschen mit Seheinschränkung wie sie wichtig sein kann.
„Was soll ich da?“, dachte ich, als ich den Workshop-Titel „Schieben, schubsen, drängeln oder so führe ich blinde und sehbehinderte Menschen“ im Programm des Louis Braille Festivals 2024 las. Mit meinem auf fünf Grad eingeschränkten Gesichtsfeld, gelte ich trotz achtprozentigem Sehrest als gesetzlich blind. Und das seit meiner Geburt. „Techniken der sehenden Begleitung“ lautete der Untertitel des Angebots, das Peter Brill, Geschäftsführer des Bundesverbands für Rehabilitationslehrer/-lehrerinnen für Blinde und Sehbehinderte leitete. Was mochten das für Techniken sein? Durch inklusive Beschulung und wenige Berührungspunkte mit der Blinden- und Sehbehindertenszene war ich in dieser Hinsicht ein unbeschriebenes Blatt. Das Schieben, Schubsen und Drängeln kannte ich dagegen nur zu gut – Aktionen wohlmeinender Helferinnen und Helfer, auf die ich eher allergisch reagiere.
Da ich es für sinnvoll hielt, Menschen, die mir assistieren, künftig genau zu instruieren, und ich manchmal selbst blinde Menschen führe, dachte ich, ein Fundament könne nicht schaden: Ich meldete mich zum Workshop an.
Der Workshop war ausgebucht. Neben sehenden Personen, die lernen wollten, wie sie neu erblindete Menschen in ihrem Umfeld richtig begleiten können, hatten einige blinde und sehbehinderte Teilnehmende ähnliche Gedanken wie ich gehabt. Unserer inklusiven Gruppe zeigte Peter Brill in eineinhalb Stunden viele hilfreiche Führtechniken, Handgriffe und bewährte Methoden der verbalen Begleitung. Er erklärte alles genau und demonstrierte es mithilfe von „Versuchskaninchen“ aus dem Kreis der Zuhörerschaft. Zum Abschluss führten wir uns gegenseitig in Zweierteams.
Anders als gedacht: Von den Grundlagen überrascht
Los ging es mit den Grundlagen. Und der ersten Überraschung: Nicht nur, dass ich es bisher vollkommen anders gehandhabt hatte. Ich stellte auch fest, dass eine seheingeschränkte Person nur dann ordentlich geführt werden kann, wenn sie selbst ein Verständnis der Führtechniken hat.
Die richtige Grifftechnik und Positionierung
Bereits wie sich eine sehbehinderte an einer führenden Person festhält, ist relevant. Beide stehen nicht direkt nebeneinander, sondern leicht überlappend hintereinander. Die seheingeschränkte Person hält sich mit einer Hand am Arm der führenden Person fest. Gegriffen wird knapp oberhalb des abgewinkelten Ellbogens, also am unteren Ende des Oberarms. Der Daumen ist dabei außen. Der gewählte Arm, an dem sich die zu führende Person festhält, wird nun Führarm genannt. Durch die hintereinander versetzte Positionierung bleibt stets eine Schrittlänge zwischen einem Hindernis und der geführten Person. Genug Zeit und Abstand, um gegebenenfalls auszuweichen oder erforderliches Handeln anzusagen. Außerdem kann so das Mitreißen beim Stolpern vermieden werden.
Der Nachteil an dieser Formation ist, dass es so schwieriger ist, Gespräche zu führen. Mit einem Lebenspartner oder Freunden würde ich so nie gehen. Da ist mir Händchenhalten oder Einhängen lieber, um gemütlich miteinander zu sprechen. Das Leben ist voller unterschiedlicher Situationen und welches Vorgehen wann passend ist, muss jeder für sich ausprobieren.
Sitzgelegenheiten zeigen
Um einer Person, die ich führe, etwas zu zeigen, lege ich meine Führhand zum Beispiel auf die Sitzfläche des Stuhls, auf den ich aufmerksam machen möchte. Sie kann dann an meinem Arm entlang fühlen. Wie viel zusätzlich erklärt werden muss, hängt von der Situation, der Person und deren Fähigkeiten ab. Den meisten Menschen genügt es zu sagen: „Hier ist der Stuhl.“ Handelt es sich um einen Schaukelstuhl oder einen Stuhl nahe an einer Kante, lohnt sich ein Hinweis.
Drehung mit und ohne Seitenwechsel
Einen weiteren Augenöffner hatte ich bei der 180-Grad-Drehung. Wenn das Team wenden möchte, passiert das nicht um die Achse der führenden Person. Die beiden Menschen drehen sich gleichzeitig aufeinander zu und wechseln fließend den Führ- und Haltearm. Dieser Bewegungsablauf ist platzsparend und leicht kontrollierbar. Wenn ein Seitenwechsel ohne Drehung vollzogen werden soll, schiebt sich die geführte Person hinter der führenden Person vorbei, ohne den Führarm loszulassen und greift mit der freien Hand nach dem freien Arm der führenden Person. Wenn dieser erreicht ist, wird der Wechsel vollzogen.
Das scheint auf den ersten Blick in einem ruhigen Kursraum übertrieben zu sein, auf einem vollen Bahnsteig, in einer belebten Einkaufsstraße oder mitten im Festivaltreiben kann es sich jedoch als sinnvoll erweisen.
Verbale Begleitung in der richtigen Dosis
Was mir ebenfalls nur zu vertraut ist, ist die Anspannung, die in mir aufkommt, wenn meine Begleitung „Vorsicht, da vorne kommt eine Treppe“, ruft. Peter Brill rät im Workshop dazu, die geführte Person erst unmittelbar vor der Treppe auf diese aufmerksam zu machen, um keine Ängste zu schüren. Außerdem kann bei einem nicht zu vertrauten Team der Hinweis sinnvoll sein, ob es auf- oder abwärts geht. Wer geübt ist, spürt das sofort am Arm der sehenden Begleitung.
Wenn ein Handlauf genutzt werden soll, wird der Führarm auf diesen gelegt. An ihm entlang kann die sehbehinderte Person mit der freien Hand zum Geländer greifen. Die andere Hand bleibt weiterhin am Führarm.
Die geeignete Warteposition wählen
Um jemanden „kurz zu parken“ empfiehlt es sich, dies an einer Säule oder Wand zu tun. Die wenigsten Menschen fühlen sich mitten im Raum wohl und Dinge, an die sich angelehnt werden kann, geben Sicherheit, da zumindest eine Seite geschützt ist.
Mit neuen Impulsen und vielen vergessenen Offensichtlichkeiten, die ich mir künftig mehr zu Herzen nehmen möchte, verlasse ich einen hilfreichen Workshop, von dem ich mir eine Fortsetzung wünsche.
Wer sich zu diesem Thema weiter informieren möchte, findet im Internet mithilfe des Suchbegriffs „sehende Begleitung“ barrierefreie Broschüren, Erklärvideos und Audiodateien. Einige Selbsthilfeorganisationen bieten überdies entsprechende Workshops an. Auch im Rahmen eines Orientierungs- und Mobilitätstrainings können Techniken des sehenden Begleitens gemeinsam geübt werden.
Weitere Informationen gibt es beim Bundesverband der Rehabilitationslehrer/-lehrerinnen für Blinde und Sehbehinderte.